Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger Thomas Südhof

«Gutachter müssen das grosse Ganze im Blick haben»

Das Ziel medizinischer Forschung ist es, Krankheiten zu kurieren. Doch zu oft korrigieren Forschungslabors und Pharmafirmen ihren Ansatz nicht, wenn in klinischen Studien der Erfolg ausbleibt. Ein Gespräch mit dem Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger Thomas Südhof über miserable Studien, gute Forschungsförderung und das Alzheimerdebakel.

 

Herr Südhof, waren Sie je auf dem Mount Everest?

Nein (lacht).


Ich hätte es mir vorstellen können. In der Forschung nehmen Sie sich den höchsten Gipfel vor. Sie untersuchen das vielleicht komplexeste Organ des Körpers, das Gehirn. Was hat Sie dazu veranlasst?

Das Gehirn ist zwar das vielleicht komplexeste Organ des Menschen. Es macht uns zu dem, was wir sind – das hat mich schon immer fasziniert. Aber man sollte nicht unterschätzen, wie viele Geheimnisse auch andere Organe noch bergen. Selbst die Zelle, als Einheit des Lebens bei Tieren und Pflanzen, ist komplex und nicht verstanden.


Je genauer man hinguckt, desto komplizierter wird es.

Ja. Ich war ursprünglich Arzt. Der Wunsch nach dem Verständnis hat mich angetrieben. Ich habe nach dem Doktorat zuerst zum Cholesterintransport geforscht, weil ich besser verstehen wollte, wie Lipidstoffwechselstörungen entstehen. Ich sah, dass auf diesem Gebiet zwar einiges ungeklärt war, man aber auch vieles bereits verstand – und dass hier viele sehr gute Forschende arbeiteten. Das Gehirn hingegen war damals relativ unerforscht. Das birgt für einen Forscher grosse Möglichkeiten. Deshalb ging ich damals in die Hirnforschung.


Ihr Spezialgebiet sind die Synapsen, die Verknüpfungen von Nervenzellen im Gehirn. Weshalb sind sie wichtig?

Synapsen sind die Knotenpunkte, an denen eine Nervenzelle mit einer anderen kommuniziert. Sie sind aber auch die grundlegenden Recheneinheiten im Gehirn. Wenn eine Nervenzelle eine Information auf eine andere überträgt, springt das Signal nicht einfach über, sondern wird an der Synapse verändert. Trotzdem gucken sich die meisten Neurobiologen nicht die Synapsen an, sondern nur die Nervenzellen. Sie zählen nur, wie oft eine Nervenzelle feuert. Wirklich wichtig ist aber, wie die Information, die in dem Feuern von Nervenzellen enthalten ist, übertragen und dabei verrechnet wird. Das unterscheidet sich von Synapse zu Synapse. Es gibt diverse Arten von Synapsen, und jede Nervenzelle hat Tausende, Zehntausende oder manchmal gar Hunderttausende von Synapsen.


Ein wahnsinnig komplexes System also.

Deshalb werden Synapsen in den Theorien der Systemneurobiologen oft zur Seite geschoben. Aber sie sind involviert in alles, was im Gehirn abläuft. Krankheiten wie Neurodegenerationen, Epilepsie, Autismus, Schizophrenie oder Tourette haben letztlich alle mit Synapsen zu tun. Das Problem ist, dass man die meisten Krankheiten des Gehirns nicht versteht, nicht weiss, wo sie ihren Ursprung haben. Zum Beispiel Alzheimer.


Gerade bei Alzheimer gibt es viele Therapieversuche. Aber auch viele Rückschläge. Erstaunt Sie das?

Nein, keineswegs. Vor etwa 30 Jahren wurde klar, dass ein kleines Peptid namens Beta-Amyloid eine grosse Rolle in der Alzheimer-Krankheit spielt. Welche Rolle, ist aber noch immer ungeklärt. Geklärt ist, dass sich bei allen Patienten mit Alzheimererkrankung dieses Peptid als unlösliche Ansammlungen im Gehirn ablagert. Diese Plaques entstehen zehn, zwanzig oder dreissig Jahre, bevor jemand Symptome hat. Es setzte sich die Überzeugung durch, dass das Peptid selbst toxisch ist. Daraufhin haben alle Pharmafirmen Medikamente entwickelt, die Beta-Amyloid oder dessen Produktion verändern. Das waren Multimultimillionen-Investitionen. Das ergab Sinn, gar keine Frage.


Ergab?

Zu Beginn, ja. Aber nach vielen, vielen klinischen Versuchen wurde klar, dass die Unterdrückung der Enzyme, die Beta-Amyloid produzieren, Alzheimer-Symptome verschärft. Diese Medikamente verschlimmern also die Krankheit. Das ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass solche Enzyme verschiedene Stoffe verarbeiten und wichtig sind, damit das Gehirn funktioniert. Dann kamen alle die klinischen Studien, die das Beta-Amyloid direkt aus dem Gehirn entfernten, aber auch keine wesentliche Verbesserung der Krankheit erbrachten.

«Krankheiten wie Alzheimer, Epilepsie, Autismus oder Schizophrenie haben alle mit Synapsen zu tun. Das Problem ist, dass man die meisten Krankheiten des Gehirns nicht versteht.»

Es fehlte also das Grundwissen über die Vorgänge im Gehirn. Begann man zu schnell mit klinischen Versuchen, weil man mit einem Alzheimer-Medikament viel Geld verdienen könnte?

Das ist eine sehr gute Frage. Das Verhältnis zwischen Grundlagenwissenschaft und klinischen Versuchen ist komplex. Manchmal muss man klinische Studien beginnen, bevor man etwas total versteht. Zum Beispiel, wenn der Bedarf irrsinnig gross ist und ein Mechanismus plausibel erscheint. Im Fall von Beta-Amyloid waren die ursprünglichen Versuche sinnvoll. Die Frage ist aber: Was, wenn sich abzeichnet, dass ein bestimmter Weg nicht zu wesentlichen Fortschritten führt? Bei Beta-Amyloid zeigten die ursprünglichen Versuche, dass man das Peptid erfolgreich aus dem Gehirn des Patienten entfernen kann – aber das führte zu keiner wesentlichen Verbesserung des Gesundheitszustands. Darum ergab es eigentlich keinen Sinn mehr, weiter in dieselbe Richtung zu probieren und ähnliche, vielleicht ein bisschen bessere Antikörper zu entwickeln. Es ist sinnvoller, in Grundlagenforschung zu investieren, um die Krankheit besser zu verstehen.


Welche Probleme entstehen, wenn die Forschung auf einem solchen Ansatz beharrt?

Ethische, finanzielle – und Probleme, die die Forschung betreffen. Man unterwirft Patienten Versuchen, bei denen eigentlich klar ist, dass sie nicht erfolgreich sein werden. Das ist unethisch. Zudem kosten klinische Versuche die Pharmafirmen Milliarden. Das Geld fehlt nicht nur für andere Versuche dieser Firmen. Auch Patienten stehen nicht mehr für andere Studien zur Verfügung. Universitäre Krankenhäuser, die oft ebenfalls beteiligt sind, haben weniger Ressourcen für anderes.


Die Forschung stagniert?

Ja. Man sendet falsche Signale. In vielen Ländern wächst der Druck, angewandte Forschung zu betreiben. Wenn Pharmafirmen Milliarden investieren in die Beta-Amyloid-Toxizität, halten Regierungen das für eine zukunftsweisende Richtung – und finanzieren ebenfalls in diesem Gebiet. Das bedeutet: verschwendetes Geld, verpasste Möglichkeiten. Und das alles hat Konsequenzen. Die Wissenschaft hat zurzeit ein Glaubwürdigkeitsproblem in der Gesellschaft. Auch, weil so vieles falsch läuft.


Auch, weil sich Resultate von Studien als falsch herausstellen?

Oh ja, das ist ein Riesenproblem. Das Publikationswesen in der Wissenschaft ist kaputt, wir können nicht mehr darauf vertrauen, dass Fachzeitschriften ehrlich wissenschaftliche Publikationen begutachten. Pharmafirmen können sich auf nichts mehr verlassen.


Auch nicht auf Resultate in renommierten Fachzeitschriften?

Auch auf diese nicht. Wenn eine Pharmafirma das Resultat einer Studie interessant findet, macht sie die Untersuchung heute noch einmal selbst. Das ist vollkommene Geldverschwendung. Aber es liegt daran, dass selbst bei den besten Fachzeitschriften die Qualitätskontrolle miserabel ist.


Weshalb?

Aus kommerziellen Gründen. Die Motivation der Journals ist es, möglichst viele Artikel zu publizieren und damit Geld zu verdienen.

Hat das wiederum Auswirkungen auf die Forschungsförderung, weil diese sich bei der Vergabe vor allem auf Publikationen abstützt?

Natürlich. Das Publikationswesen ist derzeit das grösste Problem in der akademischen Forschung. Schlimmer als der Mangel an Geld, schlimmer als irgendetwas anderes.


Wie könnte man das Problem lösen?

Mit Regulation. Die wissenschaftliche Veröffentlichungsindustrie ist die grösste Industrie der westlichen Welt, die nicht reguliert ist. Sie kann veröffentlichen, was sie will. Sie kann behaupten, was sie will. Es gibt keine Haftbarkeit, keine «Accountability». Es gibt Firmen, die besitzen Hunderte oder Tausende Journals. Das ist der Wilde Westen.


Man weiss nicht, wie gut die Fachmagazine sind.

Ja, und wenn sie etwas Falsches veröffentlichen, wird es nie korrigiert.


Wenn etwas Falsches publiziert wird, muss der Forscher Rechenschaft ablegen.

Nein. Das System korrigiert sich zwar selbst. Aber nur langsam. Es korrigiert sich dadurch, dass falsche Ergebnisse nie zu etwas führen. Die sind zwar greifbar und werden weiter zitiert. Aber es gibt keine Anwendungen oder Therapien, die darauf aufbauen. Beta-Amyloid ist ein gutes Beispiel. Es gibt viele viele Studien dazu in hochkarätigen Journals. Aber die meisten sind falsch.


Zum Beispiel?

Es gab zum Beispiel eine Studie, die behauptete, man könne Alzheimer durch Beta-Amyloid in Hautbiopsien diagnostizieren. Vollkommener Quatsch. Andere Forscher entfernten Mäusen die Eierstöcke, um die Menopause zu simulieren. In ihrer Studie in «Nature» behaupten sie, das führe zu einem Verlust von bis zu 50 Prozent aller Synapsen und erkläre, warum postmenopausale Frauen mehr Alzheimer kriegen. Kann man sich vorstellen, dass Frauen in der Menopause generell die Hälfte ihrer Synapsen im Gehirn verlieren? Nicht sehr plausibel. Und dann der kürzlich aufgedeckte Fall, dass Daten in einem sehr einflussreichen «Nature»-Paper über Beta-Amyloid vor fast 20 Jahren gefälscht wurden. All das illustriert, wie problematisch zurzeit die Veröffentlichungsindustrie ist.

«Das Publikationswesen ist derzeit das grösste Problem in der akademischen Forschung. Schlimmer als der Mangel an Geld.»

Verbessert sich dank solcher Enthüllungen etwas in der Alzheimerforschung?

Ich weiss nicht, glaube aber schon. Inzwischen ist klar, dass man mit Beta-Amyloid alleine nicht weiterkommt. Deshalb fokussiert das ganze Forschungsfeld inzwischen auf ein anderes Thema, auf Immunzellen namens Mikroglia. Plötzlich glauben die meisten Leute, Alzheimer habe etwas mit der Immunreaktion zu tun – was stimmt, aber nicht alles erklärt. Dieselben Labors, die vor 15 Jahren «Nature»-Papers über Beta-Amyloid publiziert hatten, publizieren jetzt «Nature»-Papers über Mikroglia. Das ist wie bei den Lemmingen (lacht).


Müssten die Geldgeber und Forschungsförderer mithelfen, diese unbefriedigende Situation zu ändern?

Ja, auch Stiftungen wie die Werner Siemens-Stiftung. Qualität sollte das wichtigste Vergabekriterium sein. Gutachter müssen das grosse Ganze im Blick haben, ein Feld überschauen können. Und nicht nur auf die letzten Ergebnisse und Moden achten.


Sehen Sie grundlegende Unterschiede in der Forschungsförderung zwischen den USA und Europa?

Ja, schon. In den USA besteht fast alle Forschungsförderung aus Drittmitteln. Auch mein Gehalt wird nicht von der Universität Stanford bezahlt, sondern durch Drittmittel am Howard Hughes Medical Institute – dort muss ich meine Forschungsgelder alle fünf Jahre neu eintreiben.


Ich habe gesehen, dass Sie sogar einen Spende-Button auf der Website Ihrer Gruppe haben. So etwas kennt man in Europa kaum.

(lacht) Leider funktioniert es nicht.


Einen Versuch ist es ja wert.

In Europa, zumindest in Deutschland, sind alle grösseren Labors fest finanziert – und häufig riesig. In Stanford gibt es ein paar Labors, die wirklich gross sind. Aber in den meisten, so auch in meinem, forschen 25 Leute oder weniger. Viele meiner ehemaligen Postdoktoranden in Europa haben viel grössere Labors. Sie müssen auch Anträge stellen, aber oft machen diese Drittmittel weniger als die Hälfte der Finanzierung aus. Beide Systeme haben Vor- und Nachteile. Der Vorteil in Amerika ist, dass sich Forschende jederzeit rechtfertigen müssen, was sie tun. Dadurch wird das Geld oft sinnvoll vergeben.


Und der Nachteil?

Der Druck ist enorm. Immer weniger Menschen wollen eine Forschungskarriere machen. Man hat keine Sicherheit, man muss ständig schauen, dass man Gehalt und Forschungsgelder hereinkriegt. Besonders schwierig ist es für Frauen, die Kinder haben wollen. Da müssen wir mehr tun.

«Qualität sollte das wichtigste Vergabekriterium sein. Gutachter müssen das grosse Ganze im Blick haben.»

Auch in Europa kann sich niemand darauf verlassen, nach dem Postdoc eine Professur zu erhalten.

Aber wenn man in Europa einen Job hat, hat man ihn langfristig. Diese langfristige Festförderung kann jedoch dazu führen, dass Forscherinnen und Forscher immer dasselbe machen. Sie müssen nichts mehr beweisen, sitzen in einem Riesenapparat und produzieren nicht mehr viel Neues. Das andere Problem in Europa ist: Alles ist zu klein. In Deutschland kennt jeder ;jeden. In Österreich oder der Schweiz erst recht. In der Förderung entwickelt sich Vetternwirtschaft.


Sie haben die Forschung sehr viel weitergebracht auf Ihrem Gebiet, Sie haben viele Preise erhalten, mit dem Nobelpreis auch den wichtigsten überhaupt. Was macht Sie als Forscher derart gut?

(Lacht und überlegt lange) Ich neige zur Unabhängigkeit und Skepsis. Das macht mich sowohl gut als auch schlecht. Das macht mich gut, weil ich resistent bin gegenüber Moden und kritisch gegenüber der vorherrschenden Meinung. Ein unabhängiges Denken ist enorm wichtig in der Wissenschaft. Ich glaube, das ist meine Stärke. Es ist aber auch eine Schwäche. Es fällt mir nicht leicht, mich in Bürokratien oder grössere Teams einzuklinken. Ich war nie Präsident von irgendwas, weil man dafür andere Qualitäten braucht.


Was geben Sie jungen Forscherinnen und Forschern mit auf den Weg?

Es ist wichtig, seine Stärken und Schwächen zu erkennen. Wer gut darin ist, sich spezifische Experimente auszudenken, soll versuchen wissenschaftliche Probleme zu knacken. Wer gut ist in Networking, Teamwork und Kommunikation soll interdisziplinär arbeiten oder Fragestellungen angehen, die wichtig sind für Regierungen. Beide Typen von Forschenden sollten an Universitäten forschen und arbeiten. Wir brauchen beide.