Künstlicher Muskel für ein neues Lächeln
Die operative Behandlung von Gesichtslähmungen ist aufwendig und schwierig. Vereinfachen könnte sie ein künstlicher Muskel, den ein von der Werner Siemens-Stiftung unterstütztes Forschungsteam an der EPFL in Neuenburg entwickelt hat.
Das Gesicht ist die Visitenkarte jedes Menschen. Begegnen wir einer anderen Person, ziehen wir aus ihren Gesichtszügen sofort Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeit, ihre Stimmung – und darüber, ob wir sie sympathisch finden. Ohne die Botschaften, die das Gesicht aussendet, ist eine Kommunikation zwischen Menschen kaum denkbar: Wichtig ist nicht nur, was unser Gegenüber sagt, sondern auch wie seine Augen blinzeln, wann er die Nase rümpft und wie er lächelt.
Manche Menschen aber haben ihr Lächeln verloren. Nicht wegen Trauer und Depression, sondern buchstäblich: wegen einer Gesichtslähmung. Auslöser gibt es verschiedene. Die Lähmung kann durch einen Unfall, einen Tumor oder eine Infektion entstehen, oder es kann sich um eine angeborene Fehlbildung handeln. Oft tritt die Lähmung einseitig auf – in jener Gesichtshälfte, in welcher der Nerv beschädigt ist.
Die Behandlung hängt von der Ursache und dem Ausmass ab. Ist die Gesichtslähmung dauerhaft und beeinträchtigt oder entstellt den Patienten, ziehen die Fachärzte chirurgische Eingriffe in Betracht – denn entstellte Gesichtszüge können einen Menschen derart belasten, dass er sich völlig aus der Gesellschaft zurückzieht. Typischerweise transplantiert ein Chirurg bei halbseitigen Gesichtslähmungen einen Nerv von der gesunden auf die gelähmte Gesichtshälfte.
Ein enorm elastisches Material
Manchmal reicht das jedoch nicht. Wenn Gesichtsmuskeln in Mitleidenschaft gezogen wurden oder verkümmert sind, müssen auch sie ersetzt werden. Dazu entnehmen plastische Chirurgen meist ein Stück eines Muskels aus dem Oberschenkel des Patienten und verpflanzen ihn in die Wange. Dieses Vorgehen ist aber schwierig und langwierig, oft erfordert es mehrere Operationen. Zudem kann es im Bein zu Komplikationen kommen.
In Zusammenarbeit mit der Klinik für Plastische Chirurgie und Handchirurgie des Universitätsspitals Zürich forscht das von der Werner Siemens-Stiftung unterstützte Zentrum für künstliche Muskeln (CAM) am Standort Neuenburg der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) deshalb an einer Alternative: an einem künstlichen Muskel, der dereinst Betroffenen implantiert werden kann.
Dazu benutzt das Team um Direktor Yves Perriard und Geschäftsführer Yoan Civet neuartige, enorm elastische Materialien – sogenannte dielektrischen Elastomer-Aktoren. Sie bestehen aus Schichten eines extrem elastischen Kunststoffs, des Elastomers, sowie aus Elektroden. Wird an den Elektroden eine Spannung angelegt, bildet sich zwischen ihnen ein elektrisches Feld. Je nach angelegter Spannung dehnt sich der Kunststoff aus oder zieht sich zusammen. Es ist dasselbe Material, das die Forschenden auch für einen muskelartigen Ring verwenden, der dereinst um die Aorta von Patienten mit Herzschwäche gelegt werden kann, um deren Herzleistung zu erhöhen.
Blitzschnelle Signalübertragung
Im Gegensatz zum ringförmigen Elastomer-Aktor der Aorta ist der künstliche Gesichtsmuskel flach. «Er wird in der Wange eingesetzt, der obere Teil am Knochen befestigt und der untere an der Haut im Mundbereich», erklärt Yoan Civet. Kürzlich haben die Forschenden eine erste Publikation zu diesem neuen System veröffentlicht. «Die Idee war es, in diesem Schritt die Signalübertragung vom Nerv auf unseren künstlichen Muskel zu testen.»
Dazu verknüpften die Forschenden verschiedene Versionen ihres künstlichen Muskels über Elektroden auf dem Gesicht einer gesunden Versuchsperson mit einem ihrer «Lachmuskeln» und liessen sie das Wort «Hello» sagen. Sie massen, wie stark sich der Muskel dabei in die Länge zog – und wie rasch das Bewegungssignal übertragen wird. Die Verzögerung betrug nur wenige Dutzend Millisekunden. «Die Übertragung ist also schnell, das ist wichtig», sagt Yoan Civet.
Inzwischen haben die Forschenden in ihrem Labor bereits weitere Experimente durchgeführt. Dazu entwickelte die Doktorandin Stefania Konstantinidi ein Modell. Dabei wird das künstliche Muskelsystem direkt auf dem Schädelknochen bewegt und ist – wie bei der echten Operation – mit dem Muskel der intakten Gesichtshälfte verbunden. «Durch die Knochen und andere Faktoren entsteht dabei viel Reibung», sagt Yves Perriard, «deshalb ist die elastische Verformung des künstlichen Muskels momentan noch zu klein.»
Verbessern und testen
Verbesserungen streben die Forschenden auch beim Aufbau des künstlichen Muskels an. Dielektrische Elastomer-Aktoren expandieren nämlich, wenn an ihnen eine Spannung angelegt wird. Muskeln hingegen funktionieren gerade umgekehrt: Im Ruhezustand sind sie gedehnt; wenn man sie anspannt oder aktiviert, verkürzen sie sich.
Das künstliche Gesichtsmuskelsystem müsste deshalb im Ruhezustand ständig mit Energie versorgt werden. «Das wäre möglich, aber wir arbeiten auch an einer Alternative», erzählt Civet. Dabei bauen die Forschenden ganz bestimmte Fasern in ihren Elastomer-Aktor ein. Diese Fasern kehren die Reaktion des künstlichen Muskels um: Statt zu expandieren, kontrahiert er sich nun bei der Aktivierung.
Sind die Verbesserungen am System abgeschlossen, streben die Forschenden erste in-vivo-Tests in Ratten an. Es geht also in grossen Schritten vorwärts – wenn alles klappt wie geplant, werden die künstlichen Muskeln aus Neuenburg dereinst Menschen zu einem neuen Lächeln verhelfen.