Zahnsteinproben aus aller Welt erlauben es den Forschenden der Paläobiotechnologie, ihre Suche nach antibakteriellen Wirkstoffen aus der Frühzeit des Menschen voranzutreiben – und erstaunliche «Nebenerkenntnisse» zur Entwicklung des Gehirns von Hominiden zu gewinnen.

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Uralte Wirkstoffe als neue Antibiotika zu nutzen, ist das Ziel des jungen Forschungsbereichs Paläobiotechnologie in Jena. Auf der Suche danach gewinnt die Archäologin Christina Warinner auch überraschende Erkenntnisse zur Menschheitsgeschichte.

Professorin Warinner, Ihr Forschungsteam am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie arbeitet gemeinsam mit dem Team des Biotechnologen Dr. Pierre Stallforth in Jena am aussergewöhnlichen Projekt Paläobiotechnologie: Sie suchen im Zahnstein von Frühmenschen nach dem Erbgut von Stoffen, die gegen heutige resistente Bakterien wirken. Wie sind Sie vorangekommen? 

Christina Warinner: Wir sind sehr zufrieden. Die erste Jahreshälfte von 2021 war zwar sehr geprägt von der Covid-19-Pandemie. So war es zum Beispiel nicht möglich, neue Zahnsteinproben aus der Mongolei nach Deutschland zu verschiffen. Doch haben wir unsere Pläne der Situation angepasst und uns mit voller Energie der Bioinformatik gewidmet – und konnten da grosse Fortschritte erzielen.


Welche Fortschritte?

Wenn wir in uraltem Zahnstein DNA-Abschnitte finden, ist es zentral, unterscheiden zu können, ob es sich um prähistorisches oder heutiges Erbgut handelt – etwa von Verunreinigungen an der Fundstelle. Dabei hilft uns die Bioinformatik, sie macht die Muster im Erbgut sichtbar. Die entsprechende Software mussten wir aber erst entwickeln. Das ist uns im vergangenen Jahr gelungen. Damit konnten wir inzwischen viele bereits vorhandene Zahnsteinfunde untersuchen.


Sind Sie bereits auf antibiotische Wirkstoffe gestossen? 

Wir geben unsere Analysen zu den Funden laufend an das Team von Pierre Stallforth weiter. Diese Spezialistinnen und Spezialisten für Naturstoffe suchen darin gezielt nach antibiotischen Wirkstoffen und haben bereits einige vielversprechende Kandidaten gefunden. Das ist das Schöne an unserem Projekt: Wir tun etwas Nützliches für die Gegenwart und lernen gleichzeitig mehr über die Vergangenheit.


Was meinen Sie damit?

Meine Gruppe erforscht anhand der archäologischen Funde auch die Evolution des oralen Mikrobioms, also der Gesamtheit der Mikroben im Mund. Da Reste von Mikroben im Zahnstein Jahrtausende lang erhalten bleiben, können sie uns Antworten auf offene Fragen zur Menschheitsgeschichte geben.


Welche neuen Erkenntnisse konnten Sie bisher gewinnen?

Wir haben Erstaunliches gefunden und konnten die Studien im vergangenen Jahr in renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften publizieren. Wir verglichen zum Beispiel den Zahnstein von modernen Menschen mit jenem von Neandertalern und Primaten wie Schimpansen und Gorillas. Es zeigte sich, dass im oralen Mikrobiom schon seit rund 40 Millionen Jahren hauptsächlich zehn Bakteriengruppen zu finden sind. Es gibt also eine Art stabiles Kern-Mikrobiom. Wobei etwa die Hälfte dieser Bakterien kaum erforscht sind und nicht einmal einen Namen tragen.


Schimpanse und moderner Mensch haben ähnliche Mikroben im Mund?

Man findet in der Tat bei beiden dieselben zehn Hauptgruppen von Bakterien, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung. Grosse Unterschiede gibt es vor allem bei einer bestimmten Untergruppe von Streptokokken. Diese Bakteriengattung ist bei Schimpansen kaum zu finden, bildet beim Menschen aber die wichtigste Gruppe, ebenso beim Neandertaler – bei diesen beiden besteht das Mikrobiom zu einem grossen Teil aus Streptokokken.


Was bedeutet das?

Diese Streptokokken-Art ist spezifisch an stärkehaltige Nahrungsmittel angepasst – also an Kohlenhydrate. Dass sie auch bei Neandertalern zahlreich zu finden ist, bedeutet, dass stärkehaltige Nahrungsmittel wie Wurzeln, Knollen und Samen in der menschlichen Ernährung schon lange vor der Einführung des Ackerbaus und der Evolution zum modernen Menschen eine Rolle spielten.


Das ist eine neue Erkenntnis?

Allerdings, und sie hat gewichtige Auswirkungen. Ein grosses Gehirn benötigt viel Energie. Stärke ist die energiedichteste Nahrung. Vielleicht war also die Entwicklung grösserer Gehirne möglich, weil unsere Vorfahren begannen, mehr Stärke zu essen. Bisher ging man eher davon aus, dass unsere Vorfahren durch Jagen, also durch tierisches Eiweiss, zu mehr Energie und damit zu grösseren Gehirnen kamen.


Lässt sich noch mehr aus Zahnstein herauslesen?

Ja, ich bin überzeugt, dass Zahnstein uns noch mehr über die Gehirnentwicklung der Hominiden verraten wird. Und auf weitere ungeklärte Fragen wie: Wann hat sich der Mensch das Feuer zunutze gemacht? Stärke ist am besten verdaulich, wenn sie gekocht ist. Vielleicht tauchte auch das Kochen in der Menschheitsgeschichte viel früher auf, als wir bisher dachten. Wir wissen es noch nicht, aber unsere Funde regen an, darüber nachzudenken. – Das finde ich sehr inspirierend: Bereits der Weg zum Hauptziel des Projekts, neue antibiotische Wirkstoffe zu finden, ist reich an Erkenntnissen.

Text: Adrian Ritter
Fotos: Katerina Guschanski