Foto eines prähistorischen Zahnsteins.

Zurück in die Zukunft

Bakterien werden zunehmend resistent gegen Antibiotika – eine Bedrohung für unsere Gesundheit. Der Chemiker und Biotechnologe Pierre Stallforth und die Archäologin Christina Warinner gehen das Problem der Antibiotikaresistenzen höchst innovativ an: Sie suchen in der Frühzeit des Menschen nach Stoffen, die gegen heutige resistente Bakterien wirken. Dass die Neandertaler ihre Zähne nicht putzten, erweist sich dabei als Segen.

Es ist ein Glanzpunkt in der Geschichte der Medizin: 1928 bemerkt der schottische Bakteriologe Alexander Fleming zufällig in seinem Labor, dass Pilze der Gattung Penicillium das Wachstum von Bakterien hemmen. Seine Entdeckung rettet in den folgenden Jahrzehnten in Form von zahlreichen Antibiotika Millionen von Menschen das Leben. Das Erbe von Alexander Fleming ist jedoch in Gefahr. Zu sorglos sind wir in den vergangenen Jahrzehnten mit den Wundermedikamenten umgegangen. Und zu anpassungsfähig sind die Bakterien. Sie entwickeln zunehmend Abwehrmechanismen gegen Antibiotika und werden resistent. Krankheiten wie Lungenentzündung und Tuberkulose werden damit schwieriger oder plötzlich nicht mehr behandelbar. Schätzungen gehen derzeit von weltweit bis zu 700 000 Todesfällen pro Jahr aufgrund von Antibiotikaresistenzen aus.

Die Suche nach Vielfalt

In den letzten Jahrzehnten wurden nur wenige neue Antibiotika entwickelt. Jetzt aber kommt Schwung in die Suche – dank findiger Köpfe mit unkonventionellen Ideen und dank technologischer Innovationen. Zwei solche Forschende unterstützt die Werner Siemens-Stiftung in Jena im Bundesland Thüringen: den Biotechnologen Pierre Stallforth vom Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie und die Archäologin Christina Warinner vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte. Gemeinsam suchen sie im Rahmen des Projektes «Paläobiotechnologie» an einem überraschenden Ort nach neuen Wirkstoffen gegen Bakterien – in der Frühzeit des Menschen. Ihre Überlegungen: Bakterien haben sich schon immer mit antibiotischen Stoffen gegen Feinde und Konkurrenten – etwa gegen andere Bakterien – gewehrt. Das kann sich auch der Mensch zunutze machen. Schon heute basieren drei Viertel aller Antibiotika auf solchen sogenannten Naturstoffen, die von Bakterien erzeugt werden. Seit den 1970er-Jahren sind allerdings nur chemisch sehr ähnlich aufgebaute Antibiotika entwickelt worden. Das macht es Bakterien leichter, resistent zu werden. «Wir brauchen neue Wirkstoffklassen von Antibiotika», sind Stallforth und Warinner überzeugt und haben sich in der Frühzeit auf die Suche danach gemacht. Sie wollen resistente Bakterien mit Wirkstoffen überraschen, die in der Natur heute nicht mehr vorkommen. Neueste Methoden der Biotechnologie machen es möglich, solche Naturstoffe wiederherzustellen. Das «Rezept»: Man suche im Erbgut von Bakterien aus der Frühzeit nach denjenigen DNA-Abschnitten, die für die Herstellung solcher Wirkstoffe zuständig sind, und baue sie in heutige Bakterien ein. Das Resultat: Die Bakterien werden im Labor Naturstoffe aus der Frühzeit produzieren. Warinner und Stallforth werden also Nützliches aus der Vergangenheit in die Gegenwart holen, um damit die Medizin der Zukunft zu gestalten. Welche einzelnen Schritte dazu nötig sind, zeigt die Bildfolge weiter unten.

Zahnstein als Zeitkapsel

Das Vorgehen von Christina Warinner und Pierre Stallforth erinnert an den Film «Jurassic Park». Dort erwecken Genetiker aufgrund von DNA-Funden Dinosaurier zum Leben. Nicht sehr realistisch, so das Fazit von Christina Warinner: «Die Dinosaurier sind vor rund 70 Millionen Jahren ausgestorben. Da dürften kaum noch Überreste von Erbgut zu finden sein.» Biotechnologe Pierre Stallforth ergänzt: «Und wenn, dann lässt sich damit kein so komplexes Lebewesen wie ein Dinosaurier zum Leben erwecken.» Das Vorhaben von Warinner und Stallforth mutet daneben bescheiden, vor allem aber realistischer an. Sie reisen «nur» 100 000 Jahre in die Altsteinzeit und beschäftigen sich mit winzigen Naturstoff-Molekülen. Für ihre Reise in die Vergangenheit brauchen sie keine Zeitmaschine, sondern schlicht – Zahnstein. Dieser hat sich für die Archäologie als Goldgrube erwiesen. Nirgendwo lässt sich so viel und so gut erhaltene DNA finden wie in Zahnstein, konnte Warinner in ihrer bisherigen Forschung zeigen. Sie ist als Archäogenetikerin in der Fachwelt weltweit bekannt für die Analyse alter DNA. Aufgrund ihrer bisherigen Forschung verfügt sie über Hunderte von Zahnsteinproben aus aller Welt und aus unterschiedlichen Zeitepochen. Wie in einer Zeitkapsel ist im Zahnstein alles versteinert erhalten geblieben, was die Menschen damals im Mund hatten – Nahrungsreste, aber auch Tausende von Bakterienarten. Ein Glück für die Forschung, dass Neandertaler und andere Frühformen des Menschen noch keine Zahnbürste und Dentalhygiene kannten. Sonst wäre uns dieses «orale Mikrobiom» – die Gesamtheit der Mikroorganismen, die den Mund besiedeln – nicht erhalten geblieben.

Neuartige Herausforderung

Die Aufgabe von Pierre Stallforth wird es sein, die verloren gegangenen Naturstoffe mit antibiotischer Wirkung wiederherzustellen. Der Chemiker und Biotechnologe ist spezialisiert auf die Analyse und Synthese von Naturstoffen und hat in seiner bisherigen Forschung bereits vielversprechende Kandidaten entdeckt. Möglich machen dies neue Technologien wie das «Next Generation Sequencing» (NGS), das eine schnelle und genaue DNA-Analyse erlaubt, sowie neue Methoden der Gensynthese. DNA aus der Vergangenheit wieder nutzbar zu machen, ist allerdings auch für Biotechnologen eine neuartige Herausforderung. Entsprechend wird das Team um Pierre Stallforth im Rahmen des Projekts bestehende Technologien erst weiterentwickeln müssen. Denn das prähistorische Erbgut wird in Form zerstückelter Fragmente vorliegen. Diese DNA-Schnipsel müssen die Forschenden erkennen, richtig zusammenfügen und Lücken mithilfe der Bioinformatik ergänzen. Für ein derart komplexes Projekt ist interdisziplinäre Expertise gefragt. Diese kommt am Forschungsstandort Jena zusammen: Hier forschen Expertinnen und Experten aus Archäologie, Molekularbiologie, Chemie und Biotechnologie eng zusammen – unter anderem in einem Exzellenz-Cluster zum Thema Mikroben-Gemeinschaften an der Friedrich-Schiller-Universität.

Aus der Evolution lernen

Für Christina Warinner geht derzeit ein Traum in Erfüllung: «Dank neuer Technologien können wir immer weiter zurück in die Vergangenheit sehen. So eröffnet sich uns eine ganz neue Welt.» Gut möglich, dass die Teams von Warinner und Stallforth auch noch Naturstoffe finden, die sich als alternative Energiequellen, Farbpigmente oder Materialien für die Industrie nutzen lassen. Doch in erster Linie geht es darum, die Vielfalt von Antibiotika zu erhöhen. Gleichzeitig wird das Projekt «Paläobiotechnologie» helfen, Grundlegendes zur Geschichte der Menschheit zu klären. Dazu gehören die Fragen, wie sich Bakterien und die von ihnen produzierten antibiotischen Naturstoffe sowie die Resistenzen dagegen im Laufe der Evolution entwickelt haben. Klar ist: Resistenzen sind nicht erst mit der Herstellung von Antibiotika durch den Menschen entstanden. Bakterien fanden schon vor Zehntausenden von Jahren Wege, sich gegen die antibiotischen Stoffe ihrer Feinde und Konkurrenten zu wehren. Deshalb machen sich Warinner und Stallforth keine Illusionen: Bakterien werden auch gegen neue Antibiotika wieder Resistenzen entwickeln. «Wenn wir aber verstehen, wie Bakterien im Laufe der Zeit resistent wurden, kann das Hinweise geben, wie Antibiotika beschaffen sein müssen, damit dies möglichst lange nicht geschieht», sagt Stallforth. Um die Evolution der Bakterien, Naturstoffe und Resistenzen zu verstehen, werden die Forschenden deshalb auch Vergleiche mit heutigen Mikrobiomen anstellen. Von Interesse sind dabei unter anderem die Mikrobiome traditionell lebender Gesellschaften in der Mongolei oder in Kamerun, die keine industriell hergestellten Nahrungsmittel essen und wenig Kontakt mit pharmazeutisch hergestellten Antibiotika haben.

Resistenzen hinausschieben

«Die Verhinderung von Resistenzen ist ansonsten vor allem auch eine politische und Public-Health-Aufgabe», betont Pierre Stallforth. Es geht darum, neu gewonnene Antibiotika vorsichtig anzuwenden, beispielsweise nur als Reservemedikament oder in Kombination mit anderen Wirkstoffen. Ausserdem müsse unbedingt verhindert werden, dass Antibiotika-Abfälle aus den Produktionsstätten in die Natur gelangen, wie dies etwa in Indien oft geschieht. «Wenn wir hier vorsichtiger sind, können wir neue Resistenzen um Jahrzehnte hinausschieben», so Stallforth. Die Suche nach neuen antibiotischen Wirkstoffen wird trotzdem immer weitergehen müssen. Im Rahmen des Projektes «Paläobiotechnologie» wollen die Forschenden deshalb ein Verfahren entwickeln, um in Zukunft grosse Mengen von Naturstoffen effizient gewinnen und auf ihre antibiotische Wirkung testen zu können. Bis 2029 werden die Teams dabei von der Werner Siemens-Stiftung unterstützt. Damit sie bis dann auch für die Pharmaindustrie interessante Wirkstoffe vorlegen können, werden sie vielversprechende Naturstoffe bereits präklinisch testen. So können sie herausfinden, ob diese in Zellkulturen und im Tierversuch wirksam sind – und ungefährlich.

Weltpremiere

Das Forschungsprojekt ist eine Weltpremiere: Noch nie hat jemand in Fossilien nach neuen Antibiotika gesucht und versucht, Naturstoffe ausgestorbener Bakterien wieder zum Leben zu erwecken. Christina Warinner und Pierre Stallforth suchen in einer einzigartigen Nische, die eine bisher unentdeckte Vielfalt von potenziellen Antibiotika verspricht. Mit Unterstützung der Werner Siemens-Stiftung können Warinner und Stallforth gemeinsam den weltweit neuen Forschungszweig der Paläobiotechnologie begründen – und auch nachhaltig verankern, unter anderem in Form einer interdisziplinären Graduiertenschule. Dort lernen die Archäologen von morgen die biotechnologischen Methoden kennen und die Biotechnologinnen das anthropologische Rüstzeug für ihre Arbeit – für die gemeinsame Reise in die Vergangenheit und in die Zukunft.

Text: Adrian Ritter
Fotos: Felix Wey