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Der Berg als riesiger Sensor
Das weltweit einzigartige Bedretto-Untergrundlabor stösst auf grosses internationales Interesse. Damit darin mehr Experimente zur Tiefengeothermie durchgeführt werden können, wird es dank der Unterstützung der Werner Siemens-Stiftung im Winter 2021/22 erweitert. Im stillgelegten Belüftungsstollen des Furka-Tunnels der Matterhorn Gotthard Bahn wird ein weiterer Kilometer restauriert und eine zweite Kaverne zu einem Untergrundlabor umgebaut. Gleichzeitig laufen Experimente, die das sichere Betreiben von Geothermie zum Ziel haben.
Ein Besuch im Bedretto-Untergrundlabor ist eine Art Zeitreise durch die Geologie des Gotthardmassivs. Gut 2 km weit ist der Weg vom Tunnelportal im Tessiner Dorf Ronco durch das Innere des Piz Rotondo bis zur 100 m langen Kaverne, wo die Forschenden ihr Untergrundlabor eingerichtet haben. «Es ist ein Spaziergang durch die ganze Alpengeschichte», sagt Projektleiter Domenico Giardini, Professor für Seismologie und Geodynamik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH Zürich). «Die Entwicklung von Hunderten von Millionen Jahren zeigt sich an diesem Ort.»
Schon bald wird man noch länger durch Gneis und Granit spazieren können. Voraussichtlich ab April 2022 wird ein zweites Labor in Betrieb genommen. 500 m weiter innen im Berg befindet sich nämlich eine weitere Kaverne von insgesamt mehr als 80 m Länge, die mit einem Durchmesser von 6 m ideale Voraussetzungen für ein zweites Untergrundlabor bietet.
Zweites Untergrundlabor
Dank der Unterstützung der Werner Siemens-Stiftung und in Absprache mit der Tunneleigentümerin kann der Ausbau nun realisiert werden. Auf einem weiteren Kilometer des Stollens wird der Weg gepflastert, die Decke verstärkt und jede Schwachstelle abgesichert. Zudem werden Netzwerkkabel, Stromkabel und Wasserrohre verlegt, eine Lüftung sowie Monitoring- und Sicherheitssysteme installiert. Die Bauarbeiten haben im Winter 2021 begonnen und werden rund ein halbes Jahr dauern. «Durch den Ausbau verdoppeln wir die Kapazitäten für die weitere Forschung», sagt Projektleiter Giardini. «Wir kaufen uns Zeit und Felsvolumen.»
Der Ausbau der zweiten bestehenden Kaverne zum Labor zeichnete sich schon früh als Wunsch ab. «Doch hätten wir nicht gedacht, dass wir derart schnell mehr Platz benötigen», sagt Giardini. Das grosse internationale Interesse am Labor in den Alpen sprengte rasch die Kapazitäten. So beteiligte sich auch die EU über den Europäischen Forschungsrat (European Research Council, ERC) an der Forschung im Bedretto-Untergrundlabor – mit dem grössten finanziellen Zuschuss (ERC Grant), der je im Fach Erdwissenschaften vergeben wurde. Aber auch zahlreiche Hochschulen und Industriepartner wollten mitmachen. «Wir kamen zum Schluss, dass wir entweder neue Projekte stoppen oder aber die Erweiterung sofort realisieren müssen», fasst Giardini zusammen.
Im Winter: Geothermie
Das grosse Interesse am Projekt im Gotthardmassiv kommt nicht von ungefähr: Schliesslich gilt Erdwärme (Geothermie) als unabdingbarer Bestandteil auf dem Weg in eine klimaneutrale Zukunft. Denn die bestehenden nachhaltigen Energiequellen Wasser, Sonne, Wind und heisses Thermalwasser werden den Strombedarf im Winter nicht abdecken können. Die Energiestrategie der Schweiz geht davon aus, dass Geothermie bis ins Jahr 2050 rund 7 % des Schweizer Strombedarfs liefern wird.
Die Funktionsweise der Energiegewinnung unter der Erde ist in der Theorie relativ simpel: Zunächst werden zwei Löcher weit ins Erdinnere hineingebohrt. Dort ist das Gestein heiss – in fünf Kilometern Tiefe beispielsweise herrscht eine Temperatur von etwa 150 bis 200 Grad Celsius. Dann wird Wasser ins erste Loch gepumpt. Dieses sucht sich durch feine Risse einen Weg durchs Gestein, bis es zum zweiten Loch gelangt. Da es sich unterwegs stark erhitzt, tritt es dort als Dampf aus. Der Dampf steigt durchs zweite Bohrloch auf und treibt eine Turbine an, die Strom produziert.
Sichere Rissbildung
Gesteinsarten wie Granit sind jedoch von Natur aus zu wenig durchlässig. In diesem Fall wird nachgeholfen, indem hoher Druck Risse im Gestein hervorruft – das Gestein wird «stimuliert», wie es in der Fachsprache heisst. Dies muss sehr vorsichtig geschehen. Sonst besteht die Gefahr, dass starke und damit schädliche Erdbeben ausgelöst werden. Genau das geschah im bekanntesten Geothermie-Projekt der Schweiz, das vor knapp 15 Jahren in Basel lanciert wurde und abgebrochen werden musste.
Nun sucht man im Bedretto-Untergrundlabor nach Wegen, wie die feinen Risse im Granit sanfter produziert werden können. Bereits haben die Forschenden ein geeignetes Verfahren erfolgreich getestet: die Multi-Etappen-Stimulation, bei der die Risse zeitlich gestaffelt und abschnittweise in der Tiefe provoziert werden. Das entsprechende Projekt heisst «Destress» und wurde 2021 abgeschlossen. «Das ist ein grosser Durchbruch für die geothermische Nutzung», sagt Geophysiker Marian Hertrich von der ETH Zürich, der Manager des Bedretto-Untergrundlabors.
Wärmereservoirs als Alternative
Als alternative Methode prüfen die Forschenden die Energiespeicherung in Wärmereservoirs. Die Idee: Statt in 5000 m Tiefe zu bohren und direkt Strom zu produzieren, könnte im energiereichen Sommer Wasser bis zu einer mittleren Tiefe von 1500 m gepumpt werden, wo es sich erwärmt. Im Winter kann die Energie aus dem Wärmereservoir dann genutzt werden.
Das Prinzip der Wärmespeicherung hat zwei grosse Vorteile. Erstens ist die Gefahr von gefährlichen Erdbeben in geringerer Tiefe um ein Vielfaches kleiner. Zweitens entstehen weniger Kosten – wegen der günstigeren Infrastruktur, aber auch, weil die Energie, die für das Pumpen des Wassers ins Gestein benötigt wird, im Sommer praktisch kostenlos zu haben ist. Schon heute wird an Spitzentagen im Sommer überschüssige Energie produziert. Nur gibt es noch keinen Weg, diese zu speichern. «Deutschland beispielsweise verkauft seinen Strom im Sommer an zwei bis drei Tagen pro Monat zum Negativpreis», sagt Giardini.
Neue Doktorandenprogramme
Doch nicht alle Aspekte der Wärmespeicherung sind bereits restlos geklärt. «Wenn wir grosse Volumen Wasser ins Gestein pumpen, bringt dies erhebliche Spannungsänderungen mit sich. Und das chemische Gleichgewicht wird durcheinandergebracht – das sind komplexe Prozesse», weiss Hertrich.
Diese komplexen Prozesse wollen die Forschenden nun vertieft untersuchen. Dazu haben sich europäische Spitzenuniversitäten im «International Training Network» zusammengeschlossen. 13 Doktorierende der Hochschulen ETH Zürich, TU Delft, RWTH Aachen und Politecnico di Milano testen die Machbarkeit der Methode. «Der Fokus liegt auf der Erstellung und dem sicheren Betrieb von geothermischen Wasserreservoirs», sagt Hertrich. Einen Teil ihrer Untersuchungen werden die Doktorierenden im Bedretto-Untergrundlabor durchführen. Das Programm ist im Herbst 2021 gestartet und dauert drei bis vier Jahre.
Internationale Kooperationen
Im Bedretto-Untergrundlabor finden zahlreiche weitere Forschungsprojekte statt – häufig in Zusammenarbeit mit Industriepartnern. Ein Beispiel dafür ist der Einsatz eines neuartigen hochauflösenden Messgeräts namens «Step-Rate Injection Method for Fracture In-Situ Properties» (SIMFIP). Dieses kann direkt im Bohrloch installiert werden und soll es erstmals möglich machen, die Veränderungen im Gestein zu erkennen, bevor das Gebirge überhaupt aktiviert wird. «Sind die Spannungen im Gebirge sehr gross, müssen wir sehr vorsichtig sein», sagt Hertrich. «Diese Technologie könnte dabei sehr hilfreich sein.» Das Messgerät SIMFIP ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig internationale Kooperationen bei der Erforschung der Energiegewinnung der Zukunft sind: Das Gerät wird von einem US-Forschungsinstitut entwickelt, das Kalibrieren erfolgt in Aachen, Deutschland, die Datenauswertung nimmt ein Forscher der Universität Neuenburg, Schweiz, vor.
Weltweit grösster Sensor
Das Bedretto-Untergrundlabor ist ein weltweit einzigartiges Projekt. «Ein Teil des Berges wurde zu einem riesigen Sensor umgebaut», so Projektleiter Giardini. Seit vergangenem Sommer ist das hochauflösende Messsystem im Einsatz. Insgesamt sieben bis zu 300 m tiefe Bohrlöcher wurden mit Sensoren bestückt und anschliessend zementiert, damit der Berg nichts von der Installation «bemerkt» und sich wie «normaler» Granit verhält. Dann wird das Gestein in Experimenten stimuliert, damit feine Risse entstehen. Geplant ist eine Stimulation alle ein bis zwei Wochen. «So lange dauert es, bis alles ausgewertet und analysiert ist», so Hertrich. «Die Datenmengen, welche die Sensoren aus den Bohrlöchern liefern, sind riesig.»
Text: Andres Eberhard
Fotos: Felix Wey