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Gedankenwandern
Studienalltag bedeutet oft büffeln, Prüfungen ablegen, Punkte sammeln. Für Reflexion bleibt wenig Zeit. In diese Lücke springt die Schweizerische Studienstiftung mit ihren Sommerakademien – die von der Werner Siemens-Stiftung unterstützt werden.
In den Sommerakademien in Magliaso im Tessin können sich begabte Studierende eine Woche lang in interdisziplinären Gruppen in ein Thema vertiefen. Im Jahr 2018 ging es um Digital Societies, um Determinismus und freien Willen sowie um Reproduzierbarkeit und Kopie. – Weshalb besuchen Studentinnen und Studenten in ihrer vorlesungsfreien Zeit eine Sommerakademie? Was bringt es ihnen? Wir haben drei Teilnehmende gefragt – Kai Sandbrink, Anja Meier und Johannes Fankhauser.
Sie studieren an hervorragenden Schweizer Hochschulen. Was bietet die Sommerakademie, das darüber hinausgeht?
Johannes Fankhauser: Hier kann man wie von aussen auf die Sachen schauen. Hinzukommt, dass fachfremde Leute in einer Arbeitsgruppe gemischt werden. Das gibt ein förderliches Klima und erweitert den Horizont.
Kai Sandbrink: Mir gefällt es, dass ich hier Dinge machen kann, die gerade nicht spezifisch mit meinem Studienfach Neuroinformatik zu tun haben. Es war mir immer wichtig, über das eigene Fach hinauszublicken.
Anja Meier: In meiner Akademie sitzen zum Beispiel auch Juristen und Nanotechniker. Es ist spannend, zusammen über Chancen und Risiken des Internets zu diskutieren. Der eine findet es eine geniale Sache. Der andere fragt skeptisch nach, was es mit unserer Gesellschaft macht.
Sie alle besuchen Sommerakademien, deren Thema nicht viel mit Ihrer Studienrichtung zu tun hat – zum Beispiel Physik und freier Wille . Weshalb?
Fankhauser: Mich interessierten an der Physik schon immer grundlegende Fragen wie: Was ist eigentlich die Natur der Realität? Wo kommt alles her? Durch mein zweites Studium der Philosophie der Physik habe ich ein Mindset kennengelernt, das hilft, bekannte Konzepte zu hinterfragen, um etwas Neues herauszufinden.
Bringt Sie die Sommerakademie weiter?
Fankhauser: Ja, wir sprechen über Fragen meines Faches, über die ich selber nachdenke: Ob die Welt deterministisch ist oder ob es einen echten Zufall gibt. Man könnte meinen, diese Fragen liessen sich einfach beantworten. Doch dem ist überhaupt nicht so. Die Quantenmechanik zeigt uns hier die Grenzen unseres Wissens auf.
Herr Sandbrink, Sie als Masterstudent der Neuroinformatik besuchen die eher geisteswissenschaftlich ausgerichtete Akademie «Reproduzierbarkeit und Kopie». Wie profitieren Sie davon?
Sandbrink: Ich kann gewisse Impulse in die Diskussion einbringen. Wir haben zum Beispiel in der Gruppe Metaphern in der Genetik diskutiert – etwa «Linearität» –, die literarisch verstanden werden können, aber oft einen mathematischen Ursprung haben. Da war das Verständnis der Modelle und Begriffe recht unterschiedlich – das finde ich anregend.
Frau Meier, können Sie das Akademie- Thema «Digitalisierung» mit Ihrem Studienfach Internationale Beziehungen verknüpfen?
Meier: Wir haben uns mit ein paar Ländern auseinandergesetzt, wie Estland und Singapur, welche die Digitalisierung auf nationaler Ebene weit vorangetrieben haben. Man kann vieles von ihnen lernen, was Effizienz anbelangt oder die breite Kommunikation mit den Massen. Aber stark digi-
talisierte Länder haben auch Risiken in puncto Datenschutz oder Demokratie. Mich hat erstaunt, dass Länder, die die Digitalisierung auf die Spitze getrieben haben, nicht zwingend demokratisch regiert werden müssen.
Mehrheitlich wird in den Akademien mit Hilfe von Referaten, Textlektüre und Diskussionen gearbeitet. Worin unterscheidet sich die Arbeitsweise vom Studium?
Meier: Die Akademie zu «Digital Societies» ist nicht linear aufgebaut. An einem Vormittag hatten wir einen Block mit einer Historikerin, dann eine philosophische Diskussion mit einem Theologen, anschliessend einen wirtschaftlichen Block mit einem Ökonomen. So erhält man einen breiten und interessanten Einblick in vieles, obwohl man nicht zielgerichtet vorgeht. Stattdessen wird ausgiebig und heissblütig diskutiert. Am Schluss kann man auch nicht einfach eine Take-home-Message mitnehmen. Das muss man aushalten können.
Fankhauser: Genau das gibt mehr Freiheit. Man kann auch mal herumwandern und dann wieder zurückkommen. Also in Gedanken oder auch auf dem schönen Gelände hier.
Sandbrink: Bewegung tut gut, wenn es darum geht, komplizierte Konzepte zu verstehen. Wir konnten auch im Freien arbeiten, an der Sonne.
Die Begeisterung für die Sommerakademie ist Ihnen anzumerken. Stört Sie die Exklusivität dieser Studienwoche nicht?
Meier: Das ist sicher eine Gratwanderung. Aber die Teilnehmenden sind alle auf dem Boden geblieben. Was ich wirklich schön finde, ist, dass man hier miteinander stundenlang über abstrakte Themen oder über ein verrücktes Nischenthema diskutieren kann, was in meinem Umfeld sonst nicht möglich ist. Das ist eine tolle Erfahrung.
Empfinden Sie «analoge» Sommerakademien in Zeiten der Digitalisierung überhaupt noch als angemessen?
Sandbrink: Man konzentriert sich stark auf ein Thema und lässt sich gemeinsam eine ganze Woche lang darauf ein. Dieses Setting wäre digital sehr schwer nachzubauen, und es gäbe alle möglichen Ablenkungen. Das ist wirklich besonders, dass man als Gruppe zusammenkommt und jeden Tag in der gleichen Besetzung an einem Thema weiterarbeitet.
Ist die Sommerakademie eine ideale Lernform für Sie, und hätten Sie gern noch mehr davon?
Fankhauser: Ich hätte nichts dagegen, vor allem als Ausgleich zum Studium. Mal Abstand von den Inhalten nehmen und diese verarbeiten. Dadurch besser verstehen und neue Gedanken fassen können.
Meier: An einer Uni sind persönliche Interaktionen zwischen Studenten und Dozenten wie hier gar nicht möglich. Das sehe ich als grosses Plus der Sommerakademien.
Interview: Sabine Witt
Fotos: Frank Brüderli