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Krankheitsmarker in Gewebe und Blut
Am Werner Siemens Imaging Center in Tübingen sucht Christoph Trautwein mittels hoch moderner Spektroskopie-Methoden nach winzigen Molekülen in Gewebe, Blut, Urin oder Gehirnflüssigkeit. Die sogenannte Metabolomik wird in Zukunft dazu beitragen, Krankheiten wie Demenz noch besser zu verstehen und rascher zu diagnostizieren.
Zucker, Fette, Hormone: Um richtig zu funktionieren, braucht der Körper eine Unzahl an winzigen Molekülen. Diese sogenannten Metaboliten entstehen als Zwischenstufen oder Abbauprodukte von Stoffwechselvorgängen. Ihre Zusammensetzung unterscheidet sich von Mensch zu Mensch – sie hängt nicht nur vom Erbgut ab, sondern auch vom Alter, von der Ernährung oder vom Zustand des Immunsystems.
«Die Messung einzelner Metaboliten wie Glucose, Laktat oder Kreatinin ist in der medizinischen Praxis schon lange etabliert», sagt Christoph Trautwein, Gruppenleiter am Werner Siemens Imaging Center (WSIC) in Tübingen. Im letzten Jahrzehnt aber begann sich ein Forschungsfeld zu etablieren, das weit über die Messung eines Einzelmoleküls hinausgeht: die Metabolomik. Dabei geht es letztlich darum, die Gesamtheit der Metaboliten in einer Zelle oder in einem Organismus zu erfassen.
Um Metaboliten zu messen, gibt es verschiedene Methoden. Eine, die Trautwein mit seiner Forschungsgruppe in Tübingen anwendet, ist die sogenannte Kernspinresonanzspektroskopie (NMR). Dabei werden Atomkerne durch ein starkes und homogenes Magnetfeld dazu angeregt, ihren Zustand zu ändern. Dadurch lassen sich diverse Moleküle voneinander unterscheiden. «Normalerweise untersuchen wir Extrakte von Gewebe sowie Blutserum- oder Urinproben mit dieser Methode», erklärt Trautwein.
Hinweise auf Demenz
Die Konzentrationen der verschiedenen Metaboliten, die so erfasst werden, lassen sich beispielsweise verwenden, um Hinweise auf Krankheiten zu finden. So hat Trautwein mit seinem Team für eine kürzlich publizierte Studie (1) 27 Metaboliten im Blutserum und 45 in der Gehirnflüssigkeit von gesunden Menschen mit jenen bei Patienten mit leichter Demenz und schwerer Demenz verglichen. «Wir fanden für jede dieser drei Gruppen signifikante und spezifische Metaboliten», sagt Trautwein. Das bedeutet: Solche Metabolom-Messungen könnten in Zukunft dazu beitragen, Demenzerkrankungen nachzuweisen – zumal die Methode gut korrelierte mit bisherigen Alzheimer-Indikatoren wie dem Beta-Amyloid-Peptid.
Wichtige Hinweisgeber auf Demenzerkrankungen könnten aber auch sogenannte Lipoproteine sein, die Fette und Cholesterin im Körper transportieren. «Man weiss, dass es im Alter zu Störungen im Lipoprotein-Stoffwechsel kommt, die zu Gefässverkalkungen, Bluthochdruck und Herzkreislauf-Erkrankungen führen können», sagt Trautwein. «Dies begünstigt Demenz und Parkinson.» Tatsächlich fanden er und seine Kollegen in einer letztes Jahr publizierten Studie (2) deutliche Unterschiede in Lipoprotein-Klassen und -Subklassen zwischen Alzheimerpatienten und gesunden Menschen.
Erweiterung diagnostischer Möglichkeiten
Noch sind solche Untersuchungen zumeist auf die Forschung beschränkt. Es gebe aber seit einigen Jahren Firmen, die Veränderungen im Metabolom als Krankheitsmarker auf den Markt zu bringen versuchten, sagt Trautwein. Oft gehe es darum, dank des zusätzlichen Informationsgehalts Diagnosen zu verfeinern. So könnten Unterschiede in Subklassen der Lipoproteine künftig Unterschiede zwischen Alzheimer, Parkinson und niedrigem Blutdruck aufzeigen.
Ein grosser Vorteil der NMR-Metabolomik gegenüber anderen bildgebenden Verfahren ist laut Trautwein, dass damit rasch sehr viele Proben untersucht werden können. «Eine Blut- oder Urinprobe kann man einem Patienten jeden Tag nehmen – und ein modernes Spektroskopiegerät misst bei voller Automatisierung bis zu 50 Proben pro Tag.» Zudem sind die Daten hoch reproduzierbar und dadurch vergleichbar. Die Methode eignet sich deshalb für Langzeitüberwachungen. Trautwein und seine Gruppe sind momentan an verschiedenen Studien beteiligt, die untersuchen, wie sich die Metaboliten-Zusammensetzung in Serum (3) und Urin (4) zwischen Akut- und Long-Covid-Patienten (5) unterscheidet und im Lauf der Zeit verändert.
Schlüsseltechnologie der Zukunft
Früherkennungsprogramme sind ein anderes mögliches Einsatzgebiet für die Methode. Er könne sich vorstellen, dass dereinst im Rahmen des jährlichen Gesundheitscheckups auch das metabolomische Profil erhoben werde, sagt Trautwein. Dies sei besonders im Hinblick auf Krebserkrankungen wichtig. Dazu fand Trautweins Team unlängst starke Unterschiede in der Peritonealflüssigkeit der Bauchhöhle (6) und im Blutserum (7) von Eierstockkrebs-Patientinnen unterschiedlichen Krankheitsgrades.
Und schliesslich seien Firmen daran interessiert, mit solchen Methoden Stoffwechselveränderungen sichtbar zu machen, die durch den Lebensstil oder durch die Ernährung verursacht würden. Es wäre ein vielversprechender Markt: Wenn beispielsweise wegen Fehlernährung schädliche Bakterien im Darm eines Menschen überhand nehmen, könnten Probiotika das Gleichgewicht wieder herstellen.
Das Wissen um solche Zusammenhänge werde in den kommenden Jahren schnell wachsen, prognostiziert Trautwein. So arbeiten diverse Forschungsgruppen weltweit an der Identifizierung des gesamten menschlichen Metaboloms. Es ist eine gewaltige Arbeit, für die das Biomaterial mehrerer Millionen Menschen Jahr für Jahr untersucht wird. Dereinst wird man so für Hunderte oder Tausende von Metaboliten angeben können, in welchen Konzentrationen sie in welchem Alter typisch sind – und welche sich bei einer bestimmten Krankheit wie verändern. Die Metabolomik, so scheint es, entwickelt sich gerade zu einer Schlüsseltechnologie in den Lebenswissenschaften – und das Werner Siemens Imaging Center forscht mittendrin.
Links zu den Studien
1) https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fnagi.2023.1219718/full
2) https://www.mdpi.com/1422-0067/23/20/12472
3) https://doi.org/10.1038/s43856-023-00365-y
(4) https://doi.org/10.1515/cclm-2023-1017
(5) https://doi.org/10.3389/fimmu.2023.1144224