Aktuell
MIRACLE und andere Wunder der Innovation
Rede von MIRACLE-Projektleiter Prof. Dr. Philippe Cattin, Department of Biomedical Engineering, Universität Basel
Dezember 2019
Ganz hier in der Nähe, haben sich vor rund 20 Jahren Chirurgen und Ingenieure um Prof. Zeilhofer, Delegierter für Innovation an der Universität Basel, zusammengesetzt und diskutiert, wie man chirurgische Eingriffe sicherer, schonender und präziser machen kann. Hier und heute möchte ich Ihnen nun erzählen, was dieses Vorhaben mit Michelangelo und der Sixtinischen Kapelle in Rom zu tun hat.
Zeilhofer und sein Team haben in der Folge – mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds – Planungs- und Simulations-Software entwickelt, mit der man bei Knochenumstellungen im Kiefer-Gesichtsbereich voraussagen konnte, wie der Patient nach der Operation aussehen würde. Alle Entwicklungen wurden peinlich genau dokumentiert, wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht, Doktorarbeiten verteidigt, die Resultate validiert und auch retrospektiv an Patientendaten verifiziert. Die Simulationen waren erstaunlich akkurat, aber nur, wenn man die Knochenschnitte exakt so ausgeführt wurden, wie am Computer geplant.
Das aber war oftmals nicht möglich, weil die Techniken, um Knochen im Operationssaal zu trennen, zu grob und unflexibel waren. Die Software war sozusagen der Hardware voraus. Im Grunde sehen die heutigen modernen Knochensägen immer noch so aus wie im Mittelalter. Und auch das physikalische Prinzip, wie der Knochen getrennt wird, hat sich in all den Jahrtausenden nicht verändert. Noch immer nimmt man einen harten Gegenstand und reibt ihn auf dem Knochen, um Teile davon abzusprengen. Mit dieser urzeitlichen Methode konnten wir nur selten die grossartigen Ergebnisse erzielen, die wir in den Simulationen gesehen hatten.
Auf der Suche nach einer besseren Methode entschieden wir uns vor 15 Jahren dazu, es mit Laserstrahlen zu versuchen. Als wir zu forschen begannen, waren die Voraussetzungen allerdings nicht wirklich ideal. Denn 1972 hatte ein Habilitand in Deutschland «bewiesen», dass man Knochen nicht mit Laser schneiden kann, ohne sie zu verkohlen. Wie auch immer er darauf kam …– aber wegen diesem «Beweis» war es über 30 Jahre hinweg praktisch unmöglich, Forschungsprojekte in diesem Bereich finanziert zu bekommen.
Trotzdem, haben wir uns – ausgestattet mit der nötigen Portion an Naivität – an das Projekt gemacht, um dieses «unmögliche» Wunder zu ermöglichen. Und tatsächlich, vor 2 Monaten, wurde hier in Basel weltweit zum ersten Mal bei einem Patienten der Oberkiefer mit einem roboter-gesteuerten Laser für eine Umstellungsosteotomie Millimeter-genau abgetrennt. Damit ist also der Gegenbeweis angetreten worden, und der deutsche Habilitand wurde (in der Zwischenzeit zum Professor berufen) – zum Wohle der Patienten – widerlegt.
Schön. Aber was hat das alles jetzt mit Michelangelo zu tun? 1508 hat Papst Julius der II. Michelangelo nach Rom berufen mit der Bitte, die Decke in der Sixtinische Kapelle neu zu bemalen, und zwar mit Motiven der 12 Apostel und des Jüngsten Gerichts. Michelangelo wollte den Auftrag zuerst nicht annehmen. Dies lag zum einen daran, dass Michelangelo sich als Bildhauer verstand und nicht als Maler, zum anderen aber auch daran, dass er ein angespanntes Verhältnis zum Papst hatte und sich mit ihm über die Motive und den Inhalt der zu malenden Bilder stritt. Der Streit wurde erst dadurch gelöst, dass der Papst Michelangelo vollkommen freie Hand gab. Er erkannte die herausragenden Fähigkeiten Michelangelos und wollte die Kapelle unbedingt vom ihm ausgemalt haben. Deshalb ging er ein grosses Risiko ein, schenkte Michelangelo sein ganzes Vertrauen, sicherte ihm die Finanzierung zu und bewilligte ohne Rücksprache und Kenntnis «was immer Michelangelo für angebracht» befand. Michelangelo bekam quasi einen «Blankoscheck», um die Decke der Sixtinischen Kapelle zu gestalten. 4 Jahre später, im Jahre 1512, wurde das Meisterwerk dann der Öffentlichkeit vorgestellt. Und die Strategie von Papst Julius dem II. ging auf. Heute gehört die Sixtinische Kapelle zu einer kleinen Handvoll der großartigsten und berühmtesten Kunstwerke der Welt.
Die Verbindung zwischen dieser Geschichte und der Knochenablation durch Laser besteht darin, dass es manchmal Vertrauen braucht, um Grosses zu erschaffen. Denn genau so, wie sich Michelangelo gefühlt haben dürfte, als ihm der Papst einen Blankoscheck für die Gestaltung der Sixtinischen Kapelle gab, genau so haben Prof. Zeilhofer und ich uns gefühlt, als uns die Werner Siemens-Stiftung vor 5 Jahren das Vertrauen aussprach und das MIRACLE-Projekt finanzierte.
Mit dem MIRACLE-Projekt hat uns die Werner Siemens-Stiftung die Möglichkeit gegeben, am Department of Biomedical Engineering der Universität Basel bereits an der nächsten und übernächsten Generation von Roboter-geführten Laserosteotomen zu arbeiten, nämlich an einem minimalinvasiven Laserosteotome. Dafür steht auch der Name MIRACLE, was so viel bedeutet wie «Minimally Invasive Robot-Assisted Computer-guided Laser OsteotomE».
Zusammen mit den Post-Doktoranden, Doktoranden, und Masterstudierenden, die aus aller Welt kommen, arbeiten zeitweise bis zu 50 Forschende daran, das Knochenschneiden der Zukunft hier in Basel zu entwickeln.
Um diese MIRACLE-Entwicklung voranzutreiben, haben wir den ganzen chirurgischen Ablauf beim Knochenschneiden angeschaut, von der Planung eines Eingriffes bis der Schnitt mit dem Roboter automatisch ausgeführt wurde. Und wann immer eine Technologie dazu fehlte oder für die Ärzte nicht effizient genug war, haben wir uns im MIRACLE-Projekt eine Lösung dazu ausgedacht oder sind noch daran, diese zu entwickeln.
So haben wir eine effiziente Methode zum Planen der Knochenschnitte mit Hilfe der Virtual Reality entwickelt.
Auch arbeiten wir an der Tiefenkontrolle und der Gewebecharakterisierung in Echtzeit, um mit dem Laser nicht gesundes Gewebe zu verletzten.
Seit kurzem können wir auch mit Hilfe vom Tiefenlaser die Temperaturverteilung im Schnitt messen und während dem Eingriff überwachen.
Des Weiteren wurde ein neues Sensorkonzept für die sehr genaue Bestimmung von Gelenkwinkeln bei Robotern/Maschinen entwickelt, welches nicht nur für die Medizinalindustrie, sondern auch für die Maschinenindustrie interessant ist.
Aus Technologien – entwickelt im MIRACLE-Projekt – sind zwischenzeitlich schon 3 Firmen entstanden, und viele Patienten und Patientinnen in Basel, aber auch in der ganzen Schweiz haben schon von MIRACLE-Technologien in ihren Behandlungen profitiert.
Alles was das MIRACLE-Projekt – jetzt in der Mitte seiner Laufzeit – bereits geschafft hat und noch bewirken wird, ist allein deshalb möglich, weil uns die Werner Siemens-Stiftung ihr volles und uneingeschränktes Vertrauen geschenkt hat. Das ist es, was dieses Projekt mit Michelangelo und der Sixtinischen Kapelle verbindet. Ohne grosszügige, visionäre Mäzene sind die wirklich grossen Neuerungen nicht zu schaffen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte das MIRACLE-Projekt nicht mit der Sixtinischen Kapelle gleichstellen. Die Zeit muss erst noch zeigen, wie wegweisend die Lösungen, entwickelt im MIRACLE-Projekt, wirklich sind. Ich möchte nur den Umstand benennen, dass Unerhörtes, Unerwartetes und wirklich Neues nur entstehen kann, wenn Geldgeber Vertrauen in Personen setzen, im Wissen darum, dass sie was Tolles daraus machen.
Und hier liegt auch der entscheidende Unterschied zu den traditionellen, komplementären Geldgebern wie z. B. dem Schweizerischen Nationalfonds. Dieser spricht seine Fördergelder weitestgehend auf der Basis von Projektbeschreibungen. An welche Menschen das Geld geht, spielt nur eine untergeordnete Rolle. Wenn nun ein Projektvorschlag zu weit über den jetzigen «Wissenshorizont» hinausgeht, kann es sein, dass er im Review-Prozess abgelehnt wird, weil der Erfolg des Projekts nicht ausreichend sicher belegt werden kann. Deshalb brauchen mutige Ideen auch Geldgeber, die sich nicht rechtfertigen müssen, sondern sich auf ihr Gefühl verlassen können.
Der Schweizerische Nationalfonds kann nicht einfach sagen, «den/die kenne ich, der/die schafft das, auch wenn ein Habilitand vor 47 Jahren bewiesen hat, dass es unmöglich ist». Aber Sie, die Werner Siemens-Stiftung, kann das. Und eben dies macht die Werner Siemens-Stiftung zu einer wichtigen und entscheidenden Kraft, um die Schweiz im internationalen Innovationsrennen in vorderster Position zu halten. Forschung jenseits der ausgetretenen Pfade, «off-the-beaten-track», ist zwar riskanter, kann dafür aber in Bereiche vorstossen, die andere für unerreichbar halten.
In diesem Sinne möchte ich Ihnen herzlich für das Vertrauen danken, das Sie uns Forschenden entgegenbringen. Und unserer Rektorin Frau Prof. Andrea Schenker-Wicki, danke ich für das mir entgegengebrachte Vertrauen, mich hier eine Rede halten zu lassen.
Prof. Dr. Philippe Cattin