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Schlagender Erfolg
Menschen mit einer Herzschwäche sollen künftig dank eines unterstützenden künstlichen Muskels in der Aorta zu neuer Power kommen. Die Forschenden des Zentrums für künstliche Muskeln nähern sich diesem Ziel mit Siebenmeilenstiefeln: Nach nur drei Jahren Entwicklungszeit konnten sie im Frühling 2021 einen ersten Prototyp ihres künstlichen Muskels erfolgreich an einem Schweineherzen testen.
In der Schweiz leiden etwa 200 000 Menschen an einer Herzschwäche, die meist mit Medikamenten behandelt wird. Dennoch kann sich die Pumpleistung mit der Zeit verschlechtern. Bei einer schweren Herzinsuffizienz wird den Patientinnen oder Patienten eine Herzpumpe eingesetzt, die dem erkrankten Organ bei seiner Arbeit hilft, bis ein Spenderherz verfügbar wird. Doch die lebensrettende Massnahme hat Nachteile: Die mechanischen Pumpen müssen invasiv ins Herz hinein operiert werden, wo sie die Herzwände belasten und rote Blutkörperchen zerstören können. Darum arbeiten die Forschenden des Zentrums für künstliche Muskeln (CAM) an der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) an einer schonenderen Lösung. Sie haben einen künstlichen Muskel entwickelt, der in die Aorta eingesetzt wird und das erkrankte Herz beim Pumpen unterstützen soll.
Weich und elastisch
Im Gegensatz zu einer Herzpumpe besitzt der künstliche Muskel keine starren Metallteile, sondern besteht aus weichem, elastischem Material. «So fügt er sich schonend ins Gewebe ein», sagt Yves Perriard, Mikroingenieur und Direktor des CAM. Der Muskel kann sich ausdehnen und zusammenziehen und so den Umfang der Aorta und damit den Druck in der linken Herzkammer beeinflussen. Die linke Herzkammer ist nämlich dafür zuständig, das sauerstoffreiche Blut über die Aorta in den Blutkreislauf des Körpers zu pumpen. Wenn nun die Aorta zum richtigen Zeitpunkt durch den künstlichen Muskel geweitet wird – so die Idee –, entlastet dies die linke Herzkammer: Sie muss weniger arbeiten, um die gleiche Menge Blut zu pumpen.
Der künstliche Muskel besteht im Kern aus einer Membran aus Kunststoff, die von elektrisch leitenden Kohlenstoffschichten umgeben ist. Dadurch lässt sich die Membran mittels Elektrizität steuern: Steht sie unter Spannung, dehnt sie sich aus, wenn nicht, wird sie wieder enger. Die Membran ist im Prototyp mit einem stabilisierenden Kunststoffgerüst ummantelt und mit einer weiteren dünnen Schicht versehen, die sie gegen Körperflüssigkeiten abdichtet.
Im Labor zeigte sich, dass dieses Prinzip funktioniert. Die Forschenden entwickelten und testeten den künstlichen Muskel mithilfe einer Anlage, die die beiden Herzkammern sowie den Blutfluss durch die Aorta simuliert. Wie vorgesehen, verringerte der künstliche Muskel den Druck in der simulierten linken Herzkammer.
Erfolgreiche erste Operation
Im April 2021 erfolgte bereits der Test in einem Versuchstier, einem Schwein. In einer aufwendigen Operation setzten Chirurgen in der Aorta einen Schnitt und fügten dort den künstlichen Muskel ein. Zudem war es nötig, eine ganze Reihe von Sensoren einzusetzen, die den Einfluss des Aorta-Muskels auf das Herz und den Blutfluss massen. «Für uns war dieser Versuch ein enorm wichtiger Meilenstein», sagt Yoan Civet, Geschäftsführer des CAM. «Hätte der Aorta-Ring im Tierversuch nicht funktioniert, hätten wir komplett umdenken müssen.»
Doch der Test war erfolgreich – und wie. Der Druck in der linken Herzkammer des Versuchstiers verringerte sich, und die Bewegung des Aorta-Rings half dem Schweineherzen beim Pumpen. Die Herzmuskeln mussten weniger Energie aufwenden, und der Blutfluss durch die Aorta erhöhte sich. Zudem konnten die Forschenden durch diesen Test im Detail ermitteln, wie sie die Bewegungen des künstlichen Muskels in der Aorta auf den Herzschlag abstimmen müssen, um das Herz bestmöglich zu unterstützen.
Spannung im Taschenformat
Bis jetzt kann der künstliche Muskel der linken Herzkammer einen Leistungsschub von etwa zehn Prozent verleihen. Nötig wäre etwa das Doppelte, um das menschliche Herz nachhaltig zu entlasten. «Wie wir die benötigte elektrische Spannung von rund 10 000 Volt in den Körper zum künstlichen Muskel bringen, daran arbeiten wir intensiv», sagt Perriard. Zurzeit übertragen noch Kabel diese Energie, künftig soll dies kabellos und mit einer portablen Spannungsquelle geschehen. Doch: «Diese hohe Spannung in einem kleinen Gerät zu erzeugen, ist technisch eine grosse Herausforderung», sagt Perriard. Das Team muss die nötige Leistungselektronik Schritt für Schritt miniaturisieren – zunächst auf die Grösse eines Kästchens von etwa 20x10x10 Zentimetern, danach auf die Masse eines noch kleineren Geräts, das man am Körper tragen kann. Auch beim Design des Aorta-Muskels will das Team einen Schritt weitergehen. Es sucht nach einem Weg, wie es ihn um die Aorta herumlegen kann, ohne dass ein Schnitt durch die Aorta nötig wird und ohne dass der künstliche Muskel mit Blut in Berührung kommt.
Das Herz ist erst der Anfang
Künstliche Muskeln könnten künftig auch Menschen mit Blasenschwäche oder sogar mit Lähmungen im Gesicht zugutekommen. Um Blasenschwäche zu mindern, gedenken die Forschenden einen kleinen Ring zu entwickeln, der als zusätzlicher Schliessmuskel um die Harnröhre gelegt werden kann. Für die Anwendung in der Gesichtschirurgie forscht das Team zusammen mit dem Universitätsspital Zürich an flachen Membranen, die die Bewegungen gewisser Gesichtsmuskeln unterstützen oder gar ersetzen können.
Text: Santina Russo
Foto: Zentrum für künstliche Muskeln (CAM)