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Stressvorhersage in den Augen
Die Stressanfälligkeit eines Menschen lässt sich aus seinen Pupillen ablesen. Ausgehend von dieser Erkenntnis hat der Neurowissenschaftler Marcus Grüschow in seinem MedTech Entrepreneur Fellowship an der Universität Zürich eine Trainingsmethode zum besseren Umgang mit Stress entwickelt.
Chronischer Stress ist ein Volksleiden. In der Schweiz erleben laut dem Job-Stress-Index 2022 über 28 Prozent der Erwerbstätigen deutlichen Stress am Arbeitsplatz. Das hat auch finanzielle Folgen: «Stressbedingte Störungen wie Angst, Depression oder Burnout sind heute die Hauptursachen für Arbeitsausfälle – in der Schweiz und weltweit», sagt der Neurowissenschaftler Marcus Grüschow. «Ihre Behandlung ist enorm teuer und aufwändig.»
Grüschow hat eine Methode entwickelt, die das Potenzial hat, Stress vorzubeugen und erst gar nicht entstehen zu lassen. Den ersten Schritt dazu machte er vor einigen Jahren mit einer Studie am Department of Economics der Universität Zürich. «Wir wollten herausfinden, was Menschen widerstandsfähig gegen Stress macht», erzählt er. Von Tierversuchen wusste man, dass Ratten und Mäuse mit einem hypersensitiven Stresssystem im Hirn, auch Arousalsystem genannt, eher unter Stress, Angst oder depressionsähnlichen Symptomen leiden.
Für ihre Studie untersuchten Grüschow und seine Forschungskollegen Medizinstudentinnen und -studenten, die ein sechsmonatiges Praktikum auf dem Notfall machten. «Das ist eine extrem stressreiche Zeit – und wir vermuteten, dass jene mit einem stresssensitiven System eher Angst- oder Depressionssymptome entwickeln würden.» Um das Stresssystem zu messen, untersuchten die Forschenden ihre Probanden mittels Kernspintomografie, benutzten aber gleichzeitig auch einen Eyetracker.
Stress lesen in den Pupillen
Die Studie zeigte einerseits, dass die Erweiterung der Augenpupillen die Feuerrate von Neuronen im Hirnstamm widerspiegelt und so ein Fenster zum Stresssystem im Gehirn bietet. Andererseits stellte sich tatsächlich heraus, dass Studentinnen und Studenten mit einem sensitiven Stresssystem nach dem Praktikum mehr Angst- und Depressionssymptome zeigten. «Ich merkte, dass wir etwas Bedeutsames gefunden hatten», sagt Grüschow. «Wir hatten die Vorhersage der Stressvulnerabilität von einer Multimillionenmaschine, dem Kernspintomografen, herunterskaliert auf einen kleinen Eyetracker – und später sogar auf eine Webcam.»
Auf der Basis dieser einfachen Detektionsmethode gründete Grüschow im Jahr 2021 gemeinsam mit einem Kollegen das Startup MGME Neurotech. Doch eine Vorhersage ist noch kein Geschäftsmodell. Um die Methode weiterzuentwickeln, bewarb sich Grüschow für einen MedTech Entrepreneur Fellowship. Im Rahmen dieses von der Werner Siemens-Stiftung finanzierten Förderprogramms führte er eine weitere Studie durch – mit der Idee, über das Pupillenfeedback die Emotionsregulation von Menschen zu trainieren und zu verbessern.
An je vier Trainingssessions erhielten insgesamt 40 Probandinnen und Probanden am Bildschirm Fotos gezeigt, die das Gehirn in Stress versetzen können. «Es waren eklige und schlimme Bilder, zum Beispiel von Brandopfern, Wunden, hungernden Kindern, aber auch von Spinnen, Schlangen oder zähnefletschenden Hunden», erzählt Grüschow. Nach einer Instruktion, in der mögliche Stressregulationsstrategien aufgezeigt und erklärt wurden, hatten die Teilnehmenden die Aufgabe, ihr Stresslevel nach dem Betrachten der Bilder möglichst rasch herunterzufahren.
Wiederum liess sich anhand des Pupillenmarkers voraussagen, wie gut dies jedem Einzelnen gelingen würde. Damit aber nicht genug: Die Probandinnen und Probanden erhielten eine Rückmeldung, wie gut sie ihr Stresssystem reguliert hatten. Das Feedback für die eine Hälfte war wahrheitsgetreu, jenes für die andere Hälfte erfunden – aber so, dass es die Teilnehmenden nicht bemerkten. Die nächsten drei Monate versuchten sie nun, die Techniken zur Emotionsregulation in ihrem Alltag anzuwenden. Zudem füllten sie alle zwei Tage per App einen Mini-Fragebogen aus, in dem sie nach Angst- und Depressionssymptomen und ihrer Stimmung gefragt wurden.
Stressanfällige profitieren
Es zeigte sich einerseits, dass sich die Emotionsregulation jener, die ein wahrheitsgetreues Feedback erhalten hatten, stärker verbesserte als jene der Teilnehmenden mit dem Pseudofeedback. Andererseits halfen das Training und das Feedback vor allem jenen Personen, die sehr stressanfällig waren. «Stressvulnerable Personen brauchen sehr lange, um sich von einer Stresssituation, zum Beispiel einer Prüfung, zu erholen. Und sie entwickeln schon Tage zuvor Angst- oder Stresssymptome», sagt Marcus Grüschow. «Aber mit unserem Training lernten sie über die Zeit immer besser, mit ihren Ängsten umzugehen.» Jene Probanden hingegen, die kaum stressanfällig waren, verbesserten sich über die drei Monate kaum.
Diese Menschen, so interpretiert der Forscher die Resultate, besitzen bereits die Mittel, um Stresssituationen zu meistern. Eine mögliche Strategie ist eine Umbewertung der Situation: Wer im Einkaufszentrum in einer Schlange steht, kann versuchen, etwas Positives aus der Lage zu machen – zum Beispiel, indem er sich freut, ein paar Minuten Zeit zu haben, um einfach seinen Gedanken nachzuhängen.
Eine zweite Strategie ist es, sich von der Situation zu distanzieren. Bei einem Streit ist es manchmal besser, rauszugehen und durchzuatmen. Man kann sich auch innerlich von einer Situation distanzieren. Zum Beispiel, indem man sich bei einem schlimmen Bild vorstellt, es handle sich bloss um eine Szene aus einem Film. Wichtig sei wahrscheinlich die persönliche Flexibilität, zwischen solchen Strategien zu wählen, sagt Grüschow.
Fitnessstudio fürs Hirn
Teilweise ist die Stressvulnerabilität genetisch bedingt. Aber wichtig sind auch Erfahrungen, die wir während unseres Lebens – und vor allem unserer Kindheit – machen. «Heute fahren wir dieses System fast jeden Tag hoch, weil jeden Tag etwas Stressreiches los ist», sagt Grüschow. «Dieser langanhaltende Stress ist schlimm für unser Arousalsystem.» Wer aber in der Lage ist, Strategien zu entwickeln und anzuwenden, um seine Emotionen zu regulieren, wird über die Zeit stressresilienter. «Das System wird weniger sensitiv», sagt Grüschow.
Genau da möchte er mit dem neu entwickelten Training ansetzen. «Wir können durch die Augenpupillen ins Stresssystem im Hirn hineinschauen – und wir wollen das nutzen, um die Prävention zu verbessern.» Das Schöne an dem Ansatz sei, dass man voraussagen könne, wer stressanfällig ist und wer nicht. «Wir können also jenen 30 Prozent ein Training anbieten, bei denen dauerhafte Stresssituationen möglicherweise zu Angstzuständen, Depressionen oder gar Burnouts führen könnte.»
Handeln sollte nicht nur jeder Einzelne, sondern auch Firmen, findet Grüschow. «Heute warten wir, bis Menschen psychisch krank werden; erst dann handeln wir.» Dabei sei Prävention stets kostengünstiger als Therapie. Unternehmen sollten deshalb in die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeitenden investieren, sagt Grüschow. «Sie sollten eine Art mentales Fitnessstudio aufbauen – mit dem Ziel, dass die Mitarbeitenden ihren Stressresilienzmuskel stärken können.»