Aktuell

Studierende aus ganz unterschiedlichen MINT-Fächern widmen sich an den Sommerakademien neuen Fragestellungen.

Zeit für neue Verbindungen

Wie muss man sich die Sommerakademien der Schweizerischen Studienstiftung vorstellen? Ein Augenschein vor Ort, im September 2017 in Magliaso am Luganersee.

So ähnlich muss es in der Antike zu und her gegangen sein: Erfahrene Gelehrte scharen wissbegierige junge Erwachsene um sich, geben ihnen ihr Wissen weiter und lernen von ihren Fragen und kritischen Anmerkungen. Keine Prüfung droht und verleitet zu schnellem Auswendiglernen. Die Gruppe sitzt im Garten, nahe des Sees, man hört sich zu, diskutiert, in den Palmen zwitschern die Vögel.

Die beschriebene Szene spielt sich jedoch nicht im antiken Athen ab, sondern im September 2017 an einer Sommerakademie im Tessiner Städtchen Magliaso. Die Gelehrten sind der Anthropologe und Zoologe Professor Carel van Schaik und der emeritierte Theologieprofessor Hans-Peter Mathys. Die beiden leiten zusammen die Sommerakademie «Kulturelle Evolution und Religion» und sitzen mit den Teilnehmenden in der Parkanlage des Tagungszentrums Centro Evangelico. Eben haben sie die Frage eines Physik-Studenten aufgegriffen, weshalb sich gerade das Christentum gegenüber den anderen Religionen durchsetzen konnte. «Sicher spielte es eine Rolle, dass Christus sich den Menschen zuwandte und sich um alle kümmerte, um die Bauersfrau ebenso wie um den Lahmen, dass er kein unnahbarer Gott war wie jener des Judentums und dass er auch nicht gleichgültig gegenüber den Menschen blieb wie die antiken Götter, davon hatten die Leute damals genug», überlegt Theologe Hans-Peter Mathys, «und dann war die Sprache des Christentums Griechisch, nicht etwa Latein, wie viele denken; und Griechisch war damals das heutige Englisch.» So gibt ein Gedanke den nächsten, und viele sind neu und inspirierend für die jungen Leute in der Runde, die Physik studieren oder Biologie.

Ganz ähnlich geht es im Nachbargebäude zu und her, nur dass dort die Sommerakademie «Big Data» stattfindet und Algorithmen, Entscheidungsbäume und «false positives» diskutiert werden. Die Studentinnen und Studenten brüten über dem Problem, dass statistische Untersuchungen von grossen Datenmengen immer wieder auch unsinnige Zusammenhänge hervorbringen und falsche Resultate liefern: zum Beispiel «Grüne Jelly Beans (Candys) bewirken Akne». Co-Kursleiter Servan Grüninger beginnt mit seinen Erklärungen, ein paar verstehen es auf Anhieb und äussern ihre Vermutungen, andere tippen eifrig in ihre Laptops. Wer bisher noch nichts mit Statistik und Big Data zu tun hatte, konnte am Morgen einen Crashkurs dazu absolvieren, das scheint nun Früchte zu tragen. «Es ist uns wichtig, dass alle mitdenken und etwas ausprobieren können», ist Servan Grüningers Credo, «auch die Medizinstudentin oder der Philosoph.»

Zwei Häuser weiter zerbrechen sich zwanzig junge Erwachsene den Kopf darüber, wie sie mit bescheidenen Ressourcen eine vernünftige Gesundheitsversorgung hinkriegen könnten. In Gruppen haben sie verschiedene Aufgaben gelöst und anschliessend ihre Ideen im Plenum vorgestellt. Die Leiterin Aliya Karim hat die Vorschläge kurz evaluiert und gibt nun jeder Gruppe Feedback. «Ihr habt euch gesteigert», ruft sie den einen zu, «aber eure Ideen können noch besser werden, weiter geht’s! 85 % isn’t good enough.» Um dann lächelnd zur erstaunten Reporterin zu flüstern: «That’s not true, they’re doing well.» «Gesundheit managen mit begrenzten Ressourcen» heisst diese Sommerakademie und fordert den teilnehmenden «artfremden» Ingenieurinnen, Mathematikern und Informatikerinnen ganz neues, ungewohnt pragmatisches Denken ab.

Zu den drei Sommerakademien eingeladen hat die Schweizerische Studienstiftung. Dafür bewerben konnten sich herausragende Hochschul-Studentinnen und -Studenten aus der ganzen Schweiz. Bewusst werden immer alle Studienrichtungen angesprochen, die meisten sind aber begabte junge Leute, die MINT-Fächer studieren, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik. So trifft sich an den Sommerakademien jeweils eine kunterbunte Schar von sechzig bis achtzig angehenden Bauingenieuren, Physikerinnen, Biologen, Philosophinnen, Informatikern und Ärztinnen.

Viele sind bereits das zweite Mal hier, weil ihnen die Idee der Sommerakademie enorm zusagt: Neues lernen in intensivem Austausch mit spannenden Expertinnen und Experten, aber auch mit zahlreichen Gleichaltrigen, die neugierig, offen und voller Wissensdurst sind. Doch nicht nur persönlich ist es bereichernd, neue Freundschaften für eine Woche oder ein ganzes Leben zu schliessen. Die vielfältigen Kontakte werden ihnen auch später im Berufsleben nützen, das ist ihnen klar. Dann, wenn sie in Schlüsselpositionen arbeiten, an komplexen Projekten, wenn sie ein Team leiten oder gar einen Konzern. Dann ist es hilfreich, wenn man über ein breitgefächertes Netzwerk verfügt, das bei Problemen, die man nicht selbst lösen kann, weiterhilft.

Diese Überlegungen, wie der Nachwuchs in den MINT-Fächern am besten gefördert werden kann, hat sich auch die Werner Siemens-Stiftung gemacht. 2016 beschloss sie, jedes Jahr ausgewählte Sommerakademien der Schweizerischen Studienstiftung zu finanzieren. «Die angehenden Führungskräfte im MINT-Bereich sollen keine Nerds werden, sondern einen breiten Horizont haben und über soziale Kompetenzen verfügen», sagt Peter Athanas von der Werner Siemens-Stiftung. «Es ist wichtig, dass sie die verschiedenen Herausforderungen unserer Zeit kennen und motiviert sind, in der Gesellschaft eine Rolle zu spielen, dass sie etwas bewirken wollen und sich dafür mit ihren überdurchschnittlichen Fähigkeiten einsetzen.»

Reportage: Brigitte Blöchlinger
Fotos: Frank Brüderli