Ein Fach ist nicht genug
Der Studiengang «Interdisziplinäre Naturwissenschaften» an der ETH Zürich ist anspruchsvoll – und damit genau richtig für Leif Sieben. Der 22-Jährige will nicht nur in einem Wissensgebiet tief schürfen, sondern fachübergreifende Zusammenhänge verstehen. Ein Exzellenz-Stipendium der Werner Siemens-Stiftung unterstützt ihn dabei.
Um ein Haar wäre aus Leif Sieben ein Philosoph geworden. Das Fach hatte es ihm angetan in der Kantonsschule Alpenquai in Luzern. «Ich dachte, das sei mein Ding», sagt der 22-Jährige und lächelt. Seine Maturaarbeit verfasste er, damals 17-jährig, zu den Thesen des im Westen wenig bekannten und oft unverstandenen buddhistischen Philosophen Nāgārjuna. Dessen Lehre folge zwar einer strengen Logik, akzeptiere aber Widersprüche, erklärt Sieben. «Eine Strasse kann bei Nāgārjuna nass und trocken zugleich sein – jemand wie er gilt bei uns oft als Mystiker.»
Nach der Matura wollte Sieben auf Reisen gehen, doch die Corona-Pandemie machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er entschied sich, ein Studium anzufangen und es abzubrechen, sobald das Reisen wieder möglich würde. Zwei Studiengänge kamen in seine engste Auswahl: Philosophie und Interdisziplinäre Naturwissenschaften. «Ich konnte mich beim besten Willen nicht entscheiden», erzählt Sieben. So gab er dem Zufall eine Chance – und warf eine Münze.
Der Zufall entschied gegen die Philosophie und für die Naturwissenschaften. Heute, nach vier Jahren als Student der Interdisziplinären Naturwissenschaften an der ETH Zürich, sagt Sieben: «Es war ein Glücksfall.» Die naturwissenschaftlichen Fächer zogen ihn sofort in ihren Bann. Schon nach wenigen Wochen war ein Studienabbruch kein Thema mehr. Und mit jedem Semester, erzählt er, sei das Studium noch spannender geworden.
Mehr als ein Studium
Die Interdisziplinären Naturwissenschaften sind umfangreicher als ein «normales» Studienfach. Den roten Faden bildet die Chemie. Daneben belegen die Studentinnen und Studenten auch viele Biologie-, Physik-, Mathematik- und Informatikvorlesungen. Das Spezielle: Es gibt keine separaten, etwas vereinfachten Curricula wie etwa Chemievorlesungen für Mediziner. «Wir besuchen alle Vorlesungen mit den jeweiligen Hauptfachstudentinnen und -studenten», erzählt Leif Sieben.
Das ist anspruchsvoll. Die Einführung ins Programmieren des Informatikstudiums etwa sei eines der schwierigsten Fächer, das er je belegt habe, sagt Sieben. Er habe viel Zeit investiert. «Aber es hat sich gelohnt. Ich habe einen tiefen Einblick in die Informatik gewonnen und Berührungsängste abgebaut. Wir gingen tief in die Materie.» Das finde er das Tolle am Studiengang. «Es demotiviert mich, wenn ein Thema nur oberflächlich angerissen wird.»
Durch diese Tiefe in verschiedenen Fachrichtungen entsteht ein interdisziplinäres Verständnis. Es befriedige ihn enorm, wenn er Verknüpfungspunkte zwischen den Fächern entdecke, sagt Leif Sieben. Er wolle beispielsweise nicht nur wissen, wie ein Molekül aufgebaut ist. Sondern auch, wie man es findet, wie man es synthetisiert, wie es im Körper wirkt und wie es in der Leber abgebaut wird.
Treibhausgas-Detektor gebaut
Diese inhaltliche Breite spiegelt sich auch in Leif Siebens Hobbys. Er wandert, joggt und fährt gerne Ski. Er spielte Klavier in einer Jazzband. Er drehte Filme mit einem Kollegen. Er war in einem englischen Debattierklub. Er schreibt für eine Studentenzeitung eine Kolumne zur Philosophie in der Wissenschaft.
Vielfältig sind auch die Praktika und Projekte, die Leif Sieben während seines Studiums absolviert hat. Im dritten Semester ging er für eine Projektarbeit in die Forschungsgruppe seines Thermodynamik-Professors Alexander Barnes. Er entwickelte ein Modell der sogenannten Strahlenneutralisierung in einem Gyrotron – einer Art mächtigen Mikrowelle, die beispielsweise bei Kernfusionsexperimenten eine wichtige Rolle spielt. Das gelang derart gut, dass zwei wissenschaftliche Publikationen daraus entstanden.
Die Bachelorarbeit absolvierte er im Labor für anorganische Chemie von Professor Máté Bezdek. Er entwickelte einen Detektor, der eigentlich dem Nachweis von Lachgas dienen sollte. Lachgas ist ein sehr potentes Treibhausgas. Es entsteht unter anderem, wenn auf landwirtschaftlichen Feldern zu stark gedüngt wird. «Es lässt sich aber schlecht nachweisen. Deshalb fehlt ein Überblick, wo und wann genau es entsteht.» Das Gerät funktionierte, aber die Resultate seien merkwürdig gewesen. «Bis wir merkten, dass es zwar Lachgas nachweist, aber noch 100 Millionen Mal sensitiver auf Sauerstoff ist.» Auch daraus entstand eine Publikation.
Mit WSS-Fellowship zum nächsten Projekt
Seit Studienbeginn wird Leif Sieben von der Schweizerischen Studienstiftung gefördert. Er nimmt fleissig an Veranstaltungen teil und hat schon selbst ein Seminar zum Thema «Alchemie» organisiert. Die in der Studienstiftung geknüpften Kontakte hätten ihm geholfen, in Zürich Fuss zu fassen, erzählt er. «Es ist schön, Mitstudentinnen und Mitstudenten zu treffen, die einen nicht schräg anschauen, wenn man sich für vieles interessiert und viel lernt.» Zudem sei der Studienstiftung die Interdisziplinarität wichtig. «Das passt gut zu mir.»
Von der Studienstiftung erhielt er auch bereits für zwei Förderperioden ein Werner Siemens-Fellowship zugesprochen. Ein solches Stipendium wird jährlich an zehn herausragende Studierende im MINT-Bereich, in Medizin oder Pharmazeutik vergeben. Es handelt sich um Exzellenz-Stipendien, die es talentierten und ambitionierten jungen Menschen ermöglichen, ihre Ausbildung und Entwicklung zielgerichtet zu verfolgen.
Leif Sieben öffnete das WSS-Fellowship zunächst einmal die Tür zu seiner nächsten Projektarbeit. Das Kennenlern-Treffen der WSS-Stipendiatinnen und -Stipendiaten habe bei ETH-Professorin und WSS-Fellowship-Mentorin Simone Schürle-Finke stattgefunden, erzählt er. «Ihre Labore waren toll: Da war ein Physik-Labor, ein Chemie-Labor, ein Biologie-Labor – es war quasi mein Studium in drei Laboren vereint. Ich wusste: Da muss ich hin!»
Bald darauf entwickelte Leif Sieben in Schürle-Finkes Labors ein Gerät, mit dem sich die Aktivität von Enzymen in einer Wunde messen lässt. «Es hilft herauszufinden, was in der Wunde vor sich geht und wie die Heilung verläuft», erzählt er. Aus dieser Arbeit entsteht gerade ein Paper, sodass Sieben bereits auf vier wissenschaftliche Publikationen kommt, bevor er überhaupt seine Masterarbeit in Angriff genommen hat.
Masterarbeit in Boston
Für die Masterarbeit nahm sich Leif Sieben etwas Besonderes vor: Er möchte die Forschungskultur in den USA kennenlernen – und bewarb sich deshalb bei vier US-Forschungsgruppen. Dass er überhaupt auf diese Idee kam, hänge ebenfalls mit der Werner Siemens-Stiftung zusammen, erzählt er. «Als ich wusste, dass ich den Zustupf durch das zweite Fellowship bekomme, sagte ich mir: Damit mache ich etwas Mutiges.»
Sieben bekam rasch eine Zusage von seiner ersten Wahl – Jim Collins, einem Medizin- und Bioingenieur am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston. Collins war ein Pionier der synthetischen Biologie, sattelte aber vor ungefähr zehn Jahren auf Künstliche Intelligenz (KI) um. Inzwischen hat seine Forschungsgruppe mittels KI-Methoden bereits drei neue Antibiotika gegen resistente Bakterien entwickelt.
Genau darum geht es auch in der Masterarbeit bei Collins, die Leif Sieben im vergangenen Herbst in Angriff genommen hat. Wieder dreht sich alles um Interdisziplinarität: Das Programmieren und Anweisen der KI ist der erste Teil seiner Arbeit. Im zweiten Teil braucht er die Chemie, um von der KI vorgeschlagene Moleküle herzustellen und zu testen.
In die Tiefe gehen, Verknüpfungspunkte suchen und Forschungsfragen aus interdisziplinärer Warte angehen: Genau so mag es Leif Sieben.