Thomas Zurbuchen
Thomas Zurbuchen, Professor für Weltraumwissenschaft und -technologie an der ETH Zürich

«Stiftungen können mehr Risiken eingehen»

Die Weltraum­forschung entwickelt clevere Methoden und Instrumente, um die grössten Fragen der Menschheit zu beantworten. ETH-Zürich-Professor und Ex-NASA-­Forschungschef Thomas Zurbuchen über ausserirdisches Leben, beinahe gescheiterte Missionen und die Kunst der Miniaturisierung.

Thomas Zurbuchen, auf Ihrer Website steht der Titel «Aim high»: Setz dir hohe Ziele. Gibt es solch hohe Ziele, also eine Forschungsfrage, von deren Beantwortung Sie träumen?

Mich hat mein ganzes Leben die Frage beschäftigt, ob es intelligentes Leben gibt ausserhalb der Erde. Es ist eine dieser ganz einfachen Fragen, die sich die Menschheit schon immer gestellt hat. Während meiner Forschungskarriere hat sich das Umfeld dieser Frage fundamental geändert.
 

Inwiefern?

Wir haben enorme Fortschritte gemacht. Als ich Astrophysik-Student war, gab es keine Beobachtungen von Planeten ausserhalb unseres Sonnensystems. In der Zwischenzeit haben wir über 7000 solche Exoplaneten entdeckt. Wir wissen, dass es pro Stern mindestens einen Planeten gibt und dass ungefähr 20 Prozent der Planeten Wasser enthalten können. Früher glaubten wir, dass komplexe Moleküle erst spät entstehen in der Entwicklung von Planeten. Heute wissen wir, dass die primitivsten Bausteine des Sonnensystems bereits komplexe Moleküle wie Aminosäuren enthalten, also Bausteine von Proteinen, die zum Leben führen. Und so weiter.
 

Wie geht man vor, um ausserirdisches Leben zu finden?

Die Drake-Gleichung des US-Forschers Frank Drake beschreibt, was es alles braucht, damit intelligentes Leben möglich ist. Die ersten drei Teile der Gleichung haben wir beantwortet, ich habe eben darüber gesprochen. Wie viele Planeten gibt es? Wie viele dieser Planeten können Wasser und komplizierte Moleküle enthalten? Noch nicht beantwortet haben wir die nächste Frage: Auf wie vielen Planeten mit einer physikalisch-chemischen Welt wird Biologie entstehen? Später kommt die Frage nach der Intelligenz: Können wir Signale von intelligenten Zivilisationen finden?
 

Wie misst man Moleküle oder Signale von Welten, die unvorstellbar weit weg von uns sind?

Das Universum besteht, egal wohin wir schauen, aus den gleichen Bestandteilen. Ein Ansatz ist es deshalb, nach Molekülen wie CO2 oder Ozon zu suchen, die sich in unserer Atmosphäre nur anreichern konnten wegen des Lebens auf der Erde. Signale intelligenter Kommunikation wiederum kann man mit Teleskopen aufspüren. Man stellt sich die Frage: Wenn ich von einem Stern auf die Erde schaue, wie wüsste ich, dass es dort intelligente Leute gibt? Die Antwort ist: Ich sähe zum Beispiel Radar- oder Lichtsignale, die nicht natürlich entstehen. Genauso schauen wir auf andere Planeten.
 

Man sucht nach dem, was man nicht erklären kann.

Nach Dingen, die nicht natürlich erklärbar sind. Das ist eine unglaublich schwierige Beweisführung. Der andere Ansatz ist: Wenn Leben häufig ist, könnte es sein, dass es Leben gibt auf dem Mars. Dort gehen wir einfach hin und graben. Das ist eine ganz andere Methode, und beide spielen eine Rolle bei der Suche nach Leben.
 

Was ist Ihre Einschätzung: Gibt es Leben ausserhalb der Erde?

Ich nehme es an, aber wir haben es noch nicht bewiesen. Es gibt noch ganz viele Unsicherheiten. Die meisten Forschenden nehmen an, dass es viele Zivilisationen gibt. Oft genannte Zahlen sind, dass in einer Galaxie wie unserer mit 400 Milliarden Sternen vielleicht 10’000 intelligente Zivilisationen existieren. Aber es kann auch sein, dass es nur eine gibt. Das würde bedeuten, dass intelligentes Leben viel kostbarer ist, als wir denken.

«Jede NASA-Mission ist eigentlich etwas Unmögliches.»

Auch wenn diese grosse Frage noch nicht beantwortet ist, haben Sie doch sehr hohe Ziele erreicht in Ihrer Karriere: Sie waren von 2016 bis 2022 Forschungsdirektor der Weltraumagentur NASA – wohl der wichtigste Job in der Weltraumforschung. Wie sind Sie zur Astrophysik und dann zur NASA gekommen?

Ich interessierte mich schon als Kind dafür. Ich wuchs im Berner Oberland auf, an einem Ort, an dem es dunklen Himmel gab. Das hat mich geprägt. Dunkler Nachthimmel in den Bergen ist etwas ganz anderes als der Nachthimmel unter künstlichem Licht: Man sieht Milchstrassen, unsere Galaxie. Man sieht die Farben von Sternen und Planeten. Man sieht den Unterschied zwischen Sternen und Nebeln. Später ging ich an die Universität Bern, um Physik zu studieren – und schwenkte ein auf Astrophysik. Ich konnte mithelfen in einem Satellitenprojekt und habe einen Teil eines Satelliten gebaut.
 

Der dann auch Teil einer NASA-Mission wurde.

Ja. Ich habe für das Instrument nicht nur die Analysen gemacht, sondern es auch selbst gebaut. Ein wirklich guter Techniker in Bern half mir. Er hat mich ausgebildet und sichergestellt, dass ich es richtig mache. Das Instrument war sogar noch im Inventar der Missionen, für die ich zuständig war, als ich zur NASA kam.
 

Nach dem Studium gingen Sie in die USA, wurden Professor in Michigan – wie kamen Sie von dort zum Chefposten bei der NASA?

Ich wurde in den USA für zwei Dinge bekannt. Erstens, weil die Satelliten-Experimente, die ich dort machte, erfolgreich waren. Zweitens, weil ich Innovationssysteme baute. Ich initiierte an der Universität Michigan eines der wichtigsten Startup-­Systeme der USA. Eines Tages riefen mich mehrere Leute aus der NASA-Führung an. Sie sagten, die Stelle als Forschungsdirektor werde frei, ich solle mir überlegen, eine Bewerbung zu schicken. Und das tat ich.
 

Es war also eine Verbindung aus For­schungsexzellenz und unternehmerischem Denken, das die NASA überzeugte?

Genau. Das zweite ist eben auch wichtig. Die Leute bei der NASA sagten: Wir brauchen jemanden, der beides versteht – und sie hatten das Gefühl, davon gebe es nicht allzu viele in der Wissenschaft.
 

Sie haben bei der NASA 130 Missionen geleitet. Welche davon waren die spannendsten?

Ich habe 37 Missionen neu in den Weltraum gebracht. Eine davon war das James-Webb-Weltraumteleskop, die teuerste und komplizierteste Mission, die es je gab. Bei ihr hatte ich unglaubliche Schwierigkeiten. Es war eine jener Missionen, die schwierig anfingen und mehrmals nahe am Tod waren. Beim dritten Mal konnte ich sie retten, andere hatten sie früher gerettet. Dann kam sie in den Weltraum. Inzwischen schreibt sie jede Woche Wissenschafts­geschichte – ob es um Exoplaneten geht oder um neue Einsichten über Sterne oder Schwarze Löcher.
 

Was waren die Schwierigkeiten bei dieser Mission?

Jede NASA-Mission ist unglaublich schwierig, eigentlich etwas Unmögliches. Jede hat ihre Probleme. Zweierlei muss funktionieren: die Technologie und die Menschen, das Team. 80 Prozent der Probleme kommen von den Menschen. Das Technische bringen wir in der Regel zum Laufen. Die menschliche Komponente ist schwieriger. Das hat zu tun mit Führung, mit Kultur, mit dem Willen der Leute, alles für ein Ziel zu geben. Beim James-Webb-Weltraumteleskop war es ein solches Problem. Die Mitarbeitenden waren nicht mehr motiviert und machten unglaubliche Fehler. Bei einem Test fielen 1000 Schrauben heraus.
 

Das heisst, ein wichtiger Teil Ihrer Arbeit war zu motivieren.

Absolut. Missionen sind nur erfolgreich, wenn alle verstehen, was sie tun müssen, warum sie es tun und mit welchen Randbedingungen. Und wenn alle sagen: Wir sind ein Team.
 

Sie sagten, technische Schwierigkeiten seien meist lösbar. Die Weltraumforschung ist bekannt für wahre technische Wunder, zum Beispiel dafür, hochkomplexe Geräte und Systeme zu miniaturisieren – damit man sie überhaupt auf ein Raumschiff kriegt. Wie bringt man das hin?

Das Ziel der Weltraumforschung ist es, komplizierte Dinge auf einfache Art zu machen. Ein Labor, wie wir es hier an der ETH Zürich haben, muss man in ein Gerät verwandeln, das eine Person herumtragen kann. Dafür muss man das Gerät neu erfinden. Miniaturisieren bedeutet nicht, das Ganze einfach kleiner zu machen. Man muss einen neuen Ansatz finden.
 

Haben Sie ein Beispiel aus Ihrer Zeit bei der NASA?

Das Erste, was ich bei der NASA machte, waren Initiativen, um in jedem Bereich kleine Satelliten zu bauen. Ein Satellit von der Grösse eines Cars sollte künftig auf einen Tisch passen oder sogar nur noch so gross sein wie ein Brot. Das hat zwei Vorteile: Zum einen sind kleine Satelliten viel weniger teuer. Zum anderen kann man mit 100 kleinen Satelliten die Erde zu jeder Zeit hochaufgelöst anschauen: Wenn der erste Satellit über den Horizont verschwindet, kommt bereits der nächste. Mit einem einzigen geostationären Satelliten geht das nicht.
 

Auch dafür brauchte es einen neuen technischen Ansatz?

Ja. Viele Leute respektieren die Miniaturisierung nicht als Innovationsteil. Aber kleiner machen, heisst in der Regel: Es muss einfacher sein. Man kann sich keine Mängel leisten. Wenn bei einem grossen Satelliten das Thermalsystem nicht zu hundert Prozent funktioniert, integriert man halt noch eine fünf Kilo schwere Heizung. Bei einem kleinen System geht das nicht, da muss von Anfang an alles perfekt sein. Häufig braucht es kleinere Systeme, wenn man in die Massenproduktion gehen will, Innovatoren verstehen das. Solche Beschränkungen bedeuten, dass man neu anfangen muss zu denken. Dabei entstehen ganz neue Ideen.

«Wichtig ist im Innovationsbereich, dass man verrückte ­Dinge tut.»

Ideen und Innovationen stehen auch im Zentrum Ihrer Arbeit an der ETH Zürich. Dort leiten Sie seit 2023 die Initiative ETH Zürich Space und sind Leiter einer Nationalen Innovationsinitiative im Bereich Space. Worum geht es?

Wir versuchen im Weltraum-Bereich drei Pfeiler aufzubauen. Der erste ist ein neues Masterprogramm für Space-Systeme, das sich auf den Bau innovativer Systeme, auf Nachhaltigkeit und Daten fokussiert. Wir sind eine Hochschule, die wichtigsten Menschen sind die Studentinnen und Studenten. Die besten Innovationsträger sind nicht Patente, sondern Leute. Der zweite Pfeiler sind Forschungsprojekte. Die ETH war schon an einigen Weltraum­missionen beteiligt, doch in Zukunft sollen es noch mehr sein.
 

Und der dritte Pfeiler?

Das sind die Innovationsinitiativen: Wir wollen noch viel mehr mit etablierten Firmen zusammenarbeiten. Und wir wollen mithelfen, dass Start-ups wachsen können, um mit Schweizer Technologie und Unternehmertum der Welt zu helfen.
 

Was braucht es, damit grosse Innovationen gelingen?

Im Wesentlichen drei Dinge: Gute Ideen, kluge und motivierte Menschen – und Geld.
 

Braucht es auch Unvoreingenommenheit – und Glück? Gerade bei der NASA sind wichtige Entwicklungen entstanden, die für viel mehr als die Weltraumforschung wichtig sind. Eine NASA-Bildsensor-Entwicklung etwa hat Handykameras ermöglicht.

Das ist der Vorteil von Grundlagenforschung. Aus Neuem entstehen stets Dinge, die man anderswo einsetzen kann. Beim James-Webb-Weltraum­teleskop entwickelten wir eine Technologie, um mit verteilten Optiken autonom und automatisch Licht an einer Stelle zu konzentrieren. Inzwischen braucht man das System auch bei Augenoperationen. Glück ist immer wichtig. Es gibt vieles, das man planen kann – aber vieles eben nicht. Wichtig ist im Innovations­bereich, dass man verrückte Dinge tut. Nicht verrückt im negativen Sinn, sondern verrückt schwierig, verrückt ambitioniert. In dieser Umgebung passieren Dinge, aus denen dann vielleicht das Internet wird. Milliardenschwere Industrien entstehen fast immer im Umfeld solcher Forschung.
 

Was können die Schweiz und Mitteleuropa besser machen, um Innovationen zu fördern?

Innovativ sein hat unheimlich viel mit der Frage zu tun, was passiert, wenn man nicht erfolgreich ist. Wenn wir nach dem ersten Versuch aufhören, hilft das nicht. Deshalb macht es mir Sorgen, wenn ich höre, dass jemand nach einem Misserfolg in die USA umziehen muss, weil er hier keine zweite Chance kriegt. Wenn ich viel Geld hätte, würde ich in der Schweiz in Leute investieren, die eine zweite Chance brauchen. Oder eine dritte.
 

Haben Sie noch andere Sorgen, was Innovationen in Mitteleuropa angeht?

Sorgen macht mir auch, dass die Produktivität zurückgeht. Wer mit innovativen Ideen die Welt verändern will, steht im Wettbewerb mit Teams auf der ganzen Welt. Wenn diese zwei Mal so hart arbeiten, haben sie die doppelte Chance. Ich glaube nicht, dass das Genie gewinnt. Ich glaube, dass derjenige gewinnt, der am Ball bleibt und hart arbeitet. Das habe ich im Berner Oberland gelernt. Aber das gilt auch im Silicon Valley, in Zürich, in Berlin und überall dazwischen.
 

Welche Rolle können Stiftungen für die Förderung von wichtigen Forschungsfragen oder Innovationen übernehmen?

Stiftungen sind unglaublich wichtig. Sie können mehr Risiken eingehen als staatliche Organisationen. Es gibt viele Nachweise, dass Stiftungen intelligenter investiert haben als staatliche Organisationen – und so neue, wichtige Forschungsfelder eröffneten. In die ersten Teleskope etwa, mit denen man den Weltraum beobachtete, haben Familienstiftungen investiert. Die Art und Weise, wie wir heute über uns nachdenken, ist aus solchen Investitionen entstanden.
 

Weltraummissionen sind typischerweise Langzeitprojekte. Viele Forschungsför­dergefässe sind aber auf wenige Jahre ausgelegt. Führt das in der Weltraumforschung zu Problemen?

Es gibt kurz- und langfristige Forschung. Beide sind wichtig. Die fundamentale, transformative Forschung braucht Geduld. Ein grosses Projekt wie das James-Webb-Weltraumteleskop funktioniert nur, wenn man 20 Jahre lang voll investiert. Die Sprünge, die daraus entstehen, sind Nobelpreise und so weiter. Ich halte eine Mischung aus Geduld und Ungeduld für eine gute Innovationsstrategie.
 

Zum Schluss noch einmal zurück zu den hohen Zielen: Was ist Ihr wichtigster Rat an junge Forschende, um Grosses zu erreichen?

Bei 80 Prozent der Ziele, die nicht erreicht werden, liegt es daran, dass man nicht probiert – nicht, dass man etwas falsch macht. Was ich jungen Menschen deshalb weitergebe: Ihr habt eine Chance, hohe Ziele zu erreichen. Probiert etwas, das die Welt besser macht!

Thomas Zurbuchen

Thomas Zurbuchen ist Professor für Weltraum­wissenschaft und -technologie an der ETH Zürich, zudem leitet er die Initiative ETH Zürich Space. Der 56-Jährige wuchs im Berner Oberland in der Schweiz auf und ging nach einem Physik­studium an die Universität Michigan in die USA. Seine wissen­schaftliche Forschung umfasst die Sonnen- und Helio­sphärenphysik, experimentelle Welt­raum­forschung und Weltraum­systeme; er ist auch für seine Arbeit zu Innovation und Unternehmer­tum bekannt. Von 2016 bis 2022 arbeitete er als Wissen­schafts­­direktor der US-Raumfahrt­behörde NASA. In dieser Zeit war er ver­ant­wortlich für 130 Weltraum­missionen, 37 davon wurden unter seiner Leitung ins Weltall gebracht.