Der Siemens-Familie verbunden
Nora Füssli, geboren 1874, verzauberte schon in jungen Jahren mit ihrer Schönheit und ihrem gewinnenden Wesen die Männerwelt. Sie war gebildet, hatte perfekte Umgangsformen und liebte das Musizieren. Zwei ihrer vier Ehemänner teilten ihre Hingabe an die Musik – beide stammten aus der Siemens-Dynastie. Kurz vor ihrem Tod 1941 vermachte Nora von Siemens, geborene Füssli, ihr grosses Vermögen der Werner Siemens-Stiftung – und wurde dadurch eine bedeutende Zustifterin.
Noras Vater, Wilhelm Heinrich Füssli, stammte aus einem alten Zürcher Geschlecht, das bis ins 13. Jahrhundert nachweisbar ist. Die Füsslis hatten sich über viele Generationen zu einer wohlhabenden Geschützgiesserei-Dynastie entwickelt. Doch Wilhelm Heinrich Füssli verliess das zwinglianische Zürich, um Porträtmaler zu werden.1 Ganz anders Noras Mutter Emma von Möllenbeck. Sie war katholisch und stammte mütterlicherseits aus einem alten deutschen Adelsgeschlecht. Vor ihrer Hochzeit war sie mit Leib und Seele Hofdame bei Grossherzogin Maria Maximilianowna, auch kaiserliche Hoheit Prinzessin Wilhelm genannt, nach ihrem Gatten, dem Prinzen Wilhelm von Baden.
Vater Künstler, Mutter adlig
Im Frühjahr 1869 lernten sich Noras Eltern kennen. Obwohl beide schon älter waren, verliebten sie sich heftig ineinander und heirateten noch im gleichen Jahr. Nach fünf Jahren bekamen sie ihr einziges Kind, Anna Eleonora, die alle nur Nora nannten. Doch mit dem gemeinsamen Kind traten die unterschiedlichen Lebensauffassungen stärker hervor. Noras Vater floh vor dem Familienleben in Karlsruhe und zog seinen Aufträgen als Porträtmaler nach, oft nach Rom, gelegentlich in die Schweiz. Noras Mutter fühlte sich mit ihrer kleinen Tochter alleingelassen und sehnte sich nach ihrem früheren Leben am Hof. 1890 trennten sich Noras Eltern, jedoch ohne sich scheiden zu lassen. Nora war damals 16 Jahre alt und lebte fortan mit ihrer Mutter in Karlsruhe und in Baden-Baden, wo sie oft zusammen gesellschaftliche Anlässe wie Diners, Tee-Gesellschaften und Opernaufführungen besuchten. Ihre Mutter hoffte auf eine gute Partie für Nora, und in der Tat hinterliess die mittlerweile knapp 20-Jährige «stets grossen Eindruck, vor allem bei den Herren» 2. Bei einer Soirée lernte sie Werner Hermann von Siemens kennen, der eine unglückliche Ehe hinter sich hatte und zurückgezogen lebte. Beide liebten die Musik und so musizierten sie bereits beim zweiten Treffen zusammen: «Werner Hermann spielte auf seiner Stradivari und Nora begleitete ihn sehr temperamentvoll» 3 am Flügel. Herr von Siemens «fasste in unbegreiflicher Schnelle eine lebhafte Zuneigung zu Nora, die auch sehr bald Erwiderung fand»4. 1895, nur wenige Wochen nach dem Kennenlernen, heirateten sie. Nora war 21 Jahre alt.
Ehe mit Werner Hermann von Siemens
Werner Hermanns Vater war Carl von Siemens, Bruder von Siemens-Gründer Werner. Bei der Hochzeit erhielt Werner Hermann von seinem Vater 25 000 Mark Leibrente, Nora von ihrem Vater 6000 Mark jährlich, was den beiden ein sorgenfreies Leben bescherte. Der Nachlass wurde bereits bei der Eheschliessung geregelt: Würde Werner Hermann als Erster sterben, würde Nora «die lebenslängliche cautionsfreie Nutzniessung an seinem Nachlasse» erhalten, sofern sie sich nicht wieder verheiratete. Nora und Werner Hermann lebten sommers im hochherrschaftlichen Palais Biron in Baden-Baden und winters in St. Petersburg. Sie richteten sich ein grosszügiges Musikzimmer ein, in dem sie so manches Hauskonzert gaben. 1896 bekam das Ehepaar einen Sohn, Werner Wilhelm Carl. Nicht nur die Eltern waren überglücklich, auch Grossvater Carl von Siemens freute sich sehr über den Namensträger. Doch das Glück war von kurzer Dauer. Der kleine Junge starb mit zwei Jahren und zwei Jahre später, im Sommer 1900, verschied auch Werner Hermann im Alter von 44 Jahren an einer nicht behandelten Blinddarmentzündung. Wäre er in Deutschland erkrankt, wäre Werner Hermann wohl operiert und damit gerettet worden, mutmasste Noras Mutter in einem Brief 5.
Charlotte, Marie und Nora
Nach dem tragischen Verlust verliess Nora Deutschland und zog nach Rom. Blieb aber ihrem Schwiegervater Carl von Siemens und ihren Schwägerinnen Charlotte von Buxhoeveden und Marie von Graevenitz verbunden, die rund zwanzig Jahre später, 1923, die Werner Siemens-Stiftung gründeten. Den Frühling 1904 verbrachte sie im milden Klima von San Remo. Dort begegnete sie dem persischen Prinzen Freydoun Malcom Khan, der stets bei offiziellen Anlässen zugegen war und den auch Carl von Siemens kannte.
1 Yvonne Gross und Ludwig Scheidegger: Nora Füssli,
herausgegeben von der Werner Siemens-Stiftung,
Thomas Helms Verlag, Schwerin, 2018. Seite 16
2 Gross/Scheidegger, 2018, S. 62
3 Gross/Scheidegger, 2018, S. 76
4 Gross/Scheidegger, 2018, S. 77
5 Gross/Scheidegger, 2018, S. 84
Des Prinzen Reize
Nora hatte ein Faible für das Orientalische und verfiel schon bald dem attraktiven Freydoun – und wohl auch seinem Prinzentitel. 1905 heirateten sie in Berlin. Erneut ging es danach gleich zum Notar, um das ungleiche Vermögen der Eheleute zu regeln. Nora verfügte über 80 000 Francs jährliche Lebensrente von der Siemens'schen Vermögensverwaltung, der Prinz nur über 3000 Francs, daher wurde eine vollständige Gütertrennung beschlossen. Das Ehepaar zog nach Rom, wo sie in der Hautevolee verkehrten. Doch Nora wurde mit ihrem Prinzen nicht glücklich. Freydoun gab ihr Geld skrupellos aus, es kam zur Scheidung.
Spionageverdacht
Nach der Scheidung nannte sich Nora wieder «von Siemens». Sie blühte auf und begann, in ihrem Haus in Rom einen Salon zu führen, wo sich Würdenträger des Quirinalspalastes und des Vatikans, Abgeordnete und hochrangige Militärs trafen. Nicht wenige davon machten Nora den Hof. Doch mit dem gesellschaftlichen Erfolg kamen auch die Neider. Durch unglückliche Umstände wurde sie mehrfach der Spionage verdächtigt. Es gab Herren, die gegen Nora hetzten, und solche, die ihre Unschuld verteidigten. Die Grabenkämpfe erfassten selbst die italienische Kammer, es kam zu wüsten Szenen unter den Abgeordneten, Prügeleien und 1910 gar zu einem Duell: General Luigi Fecia di Cossato trat zu Noras Verteidigung mit dem Degen an – und unterlag. Nora reiste sogleich zu ihm, um ihn gesundzupflegen – und zu heiraten. Elf Jahre lang führte Nora mit dem 33 Jahre älteren General ein ruhiges, zufriedenes Eheleben, bis er 1921 mit 80 Jahren starb.
Der Familie Siemens verbunden
Nora war 47 und bereits zum zweiten Mal Witwe. Wieder fand sie bei der Familie Siemens Halt. Neben Carl von Siemens, Charlotte und Marie fühlte sie sich auch mit Werner von Siemens' Söhnen Arnold und Wilhelm und deren Familien verbunden. Bei ihren Besuchen traf sie auch immer wieder Wilhelms Sohn Werner Ferdinand von Siemens. Der Enkel von Firmengründer Werner von Siemens war elf Jahre jünger als Nora, hatte Elektrotechnik studiert und war mit 25 Jahren ins Unternehmen Siemens & Halske eingetreten. Im gleichen Jahr heiratete er das erste Mal, liess sich aber fünf Jahre später wieder scheiden.
Erfüllte Jahre
Anfang der 1920er-Jahre standen er und Nora in sehr engem Kontakt. Nora lebte wieder in Berlin und war noch immer eine attraktive, fröhliche Frau. Werner Ferdinand liebte Musik, spielte ausgezeichnet Klavier und dirigierte mit grosser Leidenschaft – 1923 in der Berliner Philharmonie. Wenige Wochen danach mietete Werner Ferdinand am Luganer See eine Villa, und Nora liess ihre Möbel dorthin bringen. Kurz darauf heirateten sie. Doch das gesellschaftliche Leben in Lugano liess zu wünschen übrig. 1925 zogen sie zurück nach Berlin in das Herrenhaus Correns mit Parkanlage und Tennisplatz. Berlin war zu dieser Zeit eine pulsierende Metropole mit ungezählten Möglichkeiten, Intellektuellen, Künstlern, Diplomaten und anderen illustren Persönlichkeiten zu begegnen.
Grosse Klasse in den wilden 20ern
Nora genoss das Berlin der wilden 1920er-Jahre in vollen Zügen. Doch das bestimmende Element in Werner Ferdinands und Noras Leben war die Musik. Dank seiner besten Kontakte zu Berlins Musikwelt konnte er seiner Leidenschaft, dem Dirigieren, auch öffentlich nachkommen. 1928 luden sie mehr als 400 Gäste zu einem Orchesterkonzert in ihr Herrenhaus ein. Nora organisierte und kümmerte sich um die Gäste, Werner Ferdinand dirigierte. Danach gab es ein grosses Buffet und Tanz, und die ganze Nacht konnte man löffelweise Kaviar essen und französischen Champagner trinken. «Nach langen Jahren wieder einmal ein Privatfest von grosser Klasse», schrieb ein Gast6. Auch das Theater und die Lichtspielhäuser, wie man die Kinos damals nannte, wurden von beiden geliebt. Die Stummfilme wurden mit Livemusik untermalt, unter anderem mit Kinoorgeln. Diese faszinierten Werner Ferdinand besonders, und da Siemens mittlerweile ein Imperium mit vielen Millionen Umsatz und Tausenden von Mitarbeitenden war, leistete er sich 1929 für 357 000 Reichsmark eine viermanualige Wurlitzer-Orgel, die er in seinen privaten Konzertsaal stellte, umrahmt von vier grossen Konzertflügeln. Zur feierlichen Einweihung der Wurlitzer-Orgel erklang nicht nur Wagners «Meistersinger-Ouvertüre», dirigiert von Werner Ferdinand, sondern auch Tanzmusik und Jazz. Auch dieses Konzert war ein gesellschaftliches Ereignis der Extraklasse, an dem sich nationale und internationale Prominenz ein Stelldichein gaben.
Teure Orgel, schnelle Autos
Von 1919 bis 1927 war Werner Ferdinand Bevollmächtigter der Protos-Automobil GmbH, die Siemens übernommen hatte, dann aber wieder verkaufte. Er liebte Autos und liess sich selbst nach einer Kollision mit einem Bierlastwagen nicht von seiner Leidenschaft abhalten. Im roten Maybach fuhr er mit Nora unbesorgt bis nach Bayreuth zu den Festspielen, nach Baden-Baden ins Kurhaus und ins Casino, ja sogar bis nach Monte Carlo, wo 1929 der erste Grand Prix von Monaco stattfand. Werner Ferdinand hätte sich von Haus aus eigentlich um die Firma kümmern sollen, schrieb 1932 ein Reporter des Lokalanzeigers, doch der Siemens-Enkel interessiere sich nicht dafür, er verabscheue Mathematik, liebe Wagner und Brahms – und Autos aller Art7. Werner Ferdinands drei Kinder aus erster Ehe wurden nach und nach erwachsen. Sohn Peter stieg 1934 bei Siemens & Halske ein, Tochter Irene heiratete 1936 den Grossunternehmer Oskar R. Henschel (Lokomotiven, Lastwagen, Omnibusse, Flugzeuge), Sohn Carl Wilhelm studierte Nationalökonomie. Im Mai 1937 konnte Werner Ferdinand noch mit Nora seinen ersten Enkel besuchen. Im Juli starb er mit 52 Jahren an einem Tumor in fortgeschrittenem Stadium.
Das Ende naht
Vierzehn Jahre lang war Nora mit Werner Ferdinand glücklich verheiratet gewesen. Nach seinem Tod lebte sie ruhiger und privater. Nora war mittlerweile 65 und hatte gesundheitliche Probleme. Am 19. Juli 1939 schrieb sie ihr Testament, in dem sie ihr gesamtes Vermögen der Werner Siemens-Stiftung in der Schweiz vermachte. Ihre letzten Jahre verbrachte sie in München in Hotels, zusammen mit ihrem langjährigen Diener und ihrer Zofe. Am 19. Februar 1941 schloss Nora von Siemens, geborene Füssli, für immer die Augen – luxuriös und stilvoll, wie sie gelebt hatte. Sie soll auch in den letzten Stunden noch ihren Schmuck getragen haben.
6 Gross/Scheidegger, 2018, S. 146
7 Gross/Scheidegger, 2018, S. 152
Text: Brigitt Blöchlinger
Fotos: Siemens Historical Institute, Berlin