Herzblatt und Halbwilde
Seit ein paar Jahren wird die Geschichte der Werner Siemens-Stiftung aufgearbeitet und nach und nach in Buchform herausgegeben. 2020 erschien die Doppelbiografie der beiden Zustifterinnen Anna und Hertha Siemens. Obwohl ihr Leben ganz unterschiedlich verlief, blieben die beiden verbunden und beschlossen 1931 gemeinsam, ihr bedeutendes Vermögen grösstenteils der Werner Siemens-Stiftung zu vermachen.
Anna und Hertha sind Halbschwestern, ihr Vater ist Firmengründer Werner Siemens. Trotzdem verläuft ihre Kindheit sehr verschieden. Die ältere Anna verliert mit sechs Jahren ihre Mutter Mathilde Drumann; und den geliebten Vater müssen Anna und ihre drei Geschwister oft wochenlang entbehren, da er die Firma Siemens & Halske aufbaut und immer wieder geschäftlich verreist. Die zwölf Jahre jüngere Hertha hingegen kommt als erstes Kind von Werner und seiner zweiten Frau Antonie Siemens zur Welt; da ist die Firma etabliert, und der 54-jährige Vater kann es sich leisten, oft zuhause bei der Familie zu sein und mit seiner Jüngsten buchstäblich in die Sterne zu gucken.
Unterschiede zuhauf
Auch die Charaktere der beiden Halbschwestern könnten unterschiedlicher nicht sein. Anna gilt von klein auf als eigenwillig, durchsetzungsstark und eher verschlossen. Hertha wird als versöhnlich, umgänglich und idealistisch beschrieben. Als Ehefrauen trennen sich ihre Wege auch geografisch. Anna heiratet 1887 den Papierfabrikanten Richard Zanders und lässt sich mit ihm in Bergisch Gladbach im Rheinland nieder. Hertha ehelicht 1899 den Chemieprofessor Carl Dietrich Harries und zieht mit ihm erst nach Kiel, dann nach Berlin. Doch es gibt auch Gemeinsamkeiten. Am wichtigsten ist wohl die tiefe Verbundenheit zum Vater und zur weitverzweigten Verwandtschaft – sowie der Umstand, dass beide keine Kinder haben.
Geliebter Vater
Werner Siemens und seine erste Frau Mathilde leben Familien- und Gemeinsinn aufs Vorbildlichste vor. Sie sind äusserst gastfreundlich und beherbergen auf dem Charlottenburger Anwesen mit Parkanlage teils wochenlang die Familien ihrer Geschwister und Freunde. So haben sowohl Anna als auch später Hertha von klein auf regen Kontakt mit ihren Tanten, Onkeln, Cousinen und Cousins. «Die Kinderchen gedeihen so recht», schildert Werner 1861 seiner Schwägerin in London. «Namentlich Willi und Anna blühen wie die jungen Rosen (…). Die ganze Vetternschaft war fast den ganzen Tag zusammen und bildete eine recht muntere, flüchtige, kleine Truppe»1.
Während Werners langen Geschäftsreisen kümmert sich Mutter Mathilde um Anna und ihre Geschwister. Regelmässig schickt sie ihrem Mann Briefe und Fotografien der «Herzblättchen, unsere(r) Schätze»2 – die rege Korrespondenz innerhalb der Siemens-Familien war denn auch eine wichtige Quelle bei der Erstellung der Biografien von Anna und Hertha.
Früh verstorbene Mutter
Annas glückliche frühe Kindheit wird jedoch von lebensgefährlichen Krankheiten überschattet. Sie selbst erkrankt an Diphtherie und entkommt nur knapp dem Tod. Ihre Mutter stirbt 1865 an Tuberkulose – ein Verlust, der die damals 6-jährige Anna tief prägt. Mit Sorge beobachtet der Vater, wie sich seine älteste Tochter im Laufe der Jahre immer mehr verschliesst, und versucht gegenzusteuern: «Wenn du eingesehen hast, dass die Nächstenliebe die Urkraft ist welches die Menschheit veredelt und beglückt (…) so wird diese Ueberzeugung auch dein Herz weich, für Liebe empfänglich und dadurch auch Liebe erwirkend machen».3 Doch Anna geht ihren eigenen Weg, der nur teilweise dem damaligen Ideal einer sanften jungen Frau entspricht.
1 Béatrice Busjan und Yvonne Gross: Anna Siemens und Hertha Siemens.
Herausgegeben von der Werner Siemens-Stiftung,
Thomas Helms Verlag, Schwerin, 2020. Seite 14
2 Busjan/Gross, 2020, S. 19
3 Busjan/Gross, 2020, S. 32
Werner Siemens' zweite Frau
1869 verliebt sich Werner Siemens in die junge Antonie Siemens (eine weit entfernte Verwandte) aus dem schwäbischen Hohenheim und heiratet sie. Er sähe es gerne, wenn Anna seine zweite Frau als Ersatzmutter ins Herz schlösse – was Anna aber trotz ihrer grossen Liebe zum Vater einfach nicht will. Doch Annas Jugendjahre sind nicht nur konfliktreich, sondern oft auch unbeschwert und abwechslungsreich. So wird sie als 11-Jährige zum Kinderball am Königshof eingeladen. Und mit 15 übertragen ihr die Eltern die anspruchsvolle Aufgabe, während ihrer Abwesenheit den Ausbau der Charlottenburger Villa bei Berlin zu überwachen. Werner instruiert sie von Irland aus mit Briefen, in denen er sie auch über die dramatischen Schwierigkeiten informiert, die bei der Verlegung des Telegraphenkabels im Atlantik zwischen Irland und Amerika auftauchen.
Halbschwester Hertha
Werner Siemens' jüngste Tochter Hertha kommt 1870 zur Welt und erlebt eine weitaus harmonischere Kindheit. Sie lernt neben ihrem Geburtsort Berlin Charlottenburg auch das schwäbische Hohenheim, die Heimat ihrer Mutter, kennen. In den Sommerferien bei ihren Grosseltern auf Schloss Hohenheim begegnet sie Hochschuldirektoren, Agrarwissenschaftlern, Botanikern, Chemieprofessoren und dem späteren Nobelpreisträger Wilhelm Conrad Röntgen – sowie deren Kindern.
Forscher als Freunde
Da Werner Siemens in Charlottenburg ebenfalls einen Freundeskreis aus Wissenschaftlern pflegt, bekommt die heranwachsende Hertha so manches aus der Welt der Forschung mit. Sie interessiert sich für Physik, Mathematik und für das Malen. Doch Frauen sind damals nicht an der Universität oder Kunstakademie zugelassen. So braucht es die tatkräftige Unterstützung des Vaters, damit Hertha entsprechende Kurse belegen kann.
Mit Annas Hochzeit 1887 haben Herthas ältere Halbgeschwister alle das Elternhaus verlassen. Hertha bedauert das zwar und «sucht mit Erfolg etwas Jugendfrische ins Haus zu bringen» 4, wie Werner es formuliert. Doch eigentlich geniessen der alte Vater und die Teenager-Tochter das Zusammenleben sehr. Sie experimentieren gemeinsam im Privatlaboratorium der Charlottenburger Villa und betreiben astronomische Studien.
Mit den Eltern auf Reisen
1890 will Werner Siemens die Orte Kedabeg und Kalakent im Kaukasus besuchen, wo er und sein Bruder Carl ein Kupferbergwerk besitzen. «Papa hat ja immer die Idee, als könnte man ein junges Mädchen auf solche Reisen nicht mitnehmen. Ich warte in Geduld, was über mich verhängt wird»5, lässt Hertha Anna wissen. Die Geduld lohnt sich. Die abenteuerliche Reise der Kleinfamilie wird zu einem unvergesslichen Erlebnis. «Wenn's eine Seelenwanderung giebt, so bin ich gewiss einmal so etwas Halb oder Ganzwildes gewesen das zu Pferd durchs Leben gesaust ist; wenn es so recht toll hergeht dann fühle ich mich stets heimatlich wohl und berührt»6, schreibt Hertha aus Baku.
Vaters Tod
Mit keinem seiner Kinder teilt Werner Siemens so viele Erlebnisse wie mit seiner jüngsten Tochter Hertha. Die beiden verbindet eine ähnliche Wissbegier und der Drang, den Dingen auf den Grund zu gehen. Hertha wird von Vater und Mutter bis zu ihrer Heirat umsorgt, und sie nutzt diese privilegierte Situation, um die Freunde und Bekannten ihrer Eltern zu den ihrigen zu machen. Sie entwickelt eine selbstverständliche Weltläufigkeit, wie sie schon ihrem Vater zu eigen ist. Das alles hilft ihr, als Werner Siemens 1892 mit 76 Jahren stirbt, nach vorne zu schauen und sich trotz ihrer jungen 22 Jahre «als voller Mensch mit vernünftiger und achtbarer Meinung»7 zu fühlen.
4 Busjan/Gross, 2020, S. 126
5 Busjan/Gross, 2020, S. 131
6 Busjan/Gross, 2020, S. 133
7 Busjan/Gross, 2020, S. 139
Papierfabrikant und Chemieprofessor
Hertha und Anna heiraten beide aus Liebe und unterstützen ihre Ehegatten tatkräftig beim Aufbau der Karriere. Dank dem umfangreichen Beziehungsnetz und dem finanziellen Polster, das die beiden in die Ehe einbringen, kann so manche schwierige Situation gemeistert werden. Doch bleiben ihnen schwere Schicksalsschläge nicht erspart: Herthas Kind stirbt nur vierzehn Stunden nach der Geburt am 11. November 1900; Anna verliert ihren Gatten 1906 bei einem tragischen Schiessunfall. Dass weder Anna noch Hertha eigene Kinder haben, trägt wohl mit dazu bei, dass sie sich ein Leben lang philanthropisch engagieren.
Gemeinnütziges Engagement
So errichtet Hertha 1909 die Hertha-von-Siemens-Stiftung, die den Beamten und Angestellten der Siemens-Werke einen bezahlbaren Erholungsurlaub in Bad Harzburg ermöglicht. Sie kümmert sich auch um das Siemens'sche Kinderheim und lässt die Kindertagesstätte in Siemensstadt vergrössern. Ihren Kunstverstand nutzt sie, um Werke noch nicht arrivierter Künstlerinnen und Künstler zu kaufen, 1905 zum Beispiel «Herbststimmung» des Malers Vincent van Gogh, dessen Kunst damals stark umstritten ist.
Anna wiederum setzt sich für ein avantgardistisches Wohnbauprojekt ein, das sie 1897 mit ihrem Mann begonnen hat und nach seinem Tod weiterführt. Der «Gronauer Wald» ist als sozial durchmischte Einfamilienhaussiedlung am Waldrand konzipiert, in der sich von der Arbeiterfamilie bis zur Direktorenfamilie alle niederlassen können. Ihr Siedlungsprojekt wird ein Erfolg, der «Gronauer Wald» wächst bis 1937 auf 520 Häuser an. Neben dem philanthropischen Engagement ist Anna auch der Zusammenhalt der eigenen umfangreichen Siemens-Familie wichtig. Sie errichtet mit 49 Verwandten eine Familienstiftung. Und sie setzt sich jahrelang hartnäckig dafür ein, das Haus in Goslar zu kaufen, das dem ersten verbürgten Siemens gehörte, und als Museum instand zu setzen.
Weltkrieg und Inflation
Der Erste Weltkrieg führt in Deutschland zu einer Hyperinflation, von der auch die Siemens-Nachkommen betroffen sind. Im Dezember 1918 übernimmt Hertha die delikate Aufgabe, ihrer Schwester Anna die schwierige wirtschaftliche Lage der Siemens-Werke und der Familienfinanzen vor Augen zu führen.
Die Erfahrung von Inflation und Währungsreform, aber auch die Enteignung und Vertreibung der Cousinen Charlotte und Marie aus dem kommunistischen Russland veranlassen Hertha und Anna, sich Gedanken über die Absicherung ihres Vermögens zu machen. Gemeinsam – beide sind mittlerweile Witwen – beschliessen sie 1926, ihre «Siemens & Halske»-Aktien an die Mira Treuhandgesellschaft AG in Schaffhausen in der Schweiz zu verkaufen. Den Kaufpreis lassen sie sich in Jahresraten auszahlen, das Restguthaben verzinst die Mira. So kommen Anna und Hertha zu einem verlässlichen Einkommen.
Bedeutende Zustifterinnen
Fünf Jahre später, 1931, überführen sie ihr Vermögen bei der Mira in Höhe von gut 1,4 Millionen Schweizer Franken in die von ihren Cousinen Marie und Charlotte 1923 gegründete Werner-Stiftung, die zugleich die Pflichten der Mira übernimmt. Die beiden halten ausserdem testamentarisch fest, dass ihr weiteres Vermögen nach ihrem Tod ebenfalls der Werner-Stiftung zukommt, um es auf diese Weise langfristig für die Nachkommen von Werner und Carl von Siemens zu sichern. In dieser Zeit beschliessen die Geschwister auch die Umbenennung der Werner-Stiftung in Werner Siemens-Stiftung.8
Am 19. Dezember 1938 wird Anna 80 Jahre alt. Ihre jüngeren Geschwister Hertha, Käthe und Carl Friedrich überraschen sie mit einem Besuch. Es wird das letzte Treffen der ältesten und der jüngsten Tochter von Werner Siemens sein. Hertha stirbt im Januar und Anna im Juli 1939 – als hätten sie sich in ihrer Verbundenheit sogar auf das Todesjahr geeinigt.
8 Busjan/Gross, 2020, S. 194
Text: Brigitt Blöchlinger
Fotos: Siemens Historical Institute