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Anhand von uralter DNA ist es den Biochemikern gelungen, Moleküle herzustellen – die Paläofurane (hier in Pulverform).

Steinzeit-Moleküle neu produziert

Das von der Werner Siemens-Stiftung unterstützte Projekt Paläobiotechnologie in Jena hat einen Meilenstein erreicht: Im renommierten Fachmagazin «Science» beschreibt das Team um Pierre Stallforth und Christina Warinner, wie es erstmals bis zu 100‘000 Jahre alte mikrobielle Wirkstoffe neu hat entstehen lassen.

Bakterien produzieren eine Vielzahl von chemischen Stoffen – zum Beispiel Antibiotika, die sie benötigen, um sich gegen andere Bakterien zur Wehr zu setzen. Solche sogenannte Naturstoffe sind eine der wichtigsten Quellen neuer Arzneimittel. Doch bislang können Forschende sie nur aus heute noch lebenden Bakterien gewinnen.

Dem von der Werner Siemens-Stiftung seit 2020 unterstützten Projekt Paläobiotechnologie ist es nun gelungen, eine neue Quelle für solche Naturstoffe zu erschliessen: Die Forschenden um den Chemiker Pierre Stallforth von der Friedrich-Schiller-Universität Jena und vom Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie und die Archäogenetikerin Christina Warinner von der Harvard University und vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie haben erstmals aus dem Zahnstein von Frühmenschen Naturstoffe neu hergestellt, die vor 100‘000 Jahren von Bakterien produziert worden waren.

Bakterien-Gene aus dem Zahnstein

Zahnstein ist der einzige Bestandteil des Körpers, der im Laufe des Lebens versteinert. Im Verlauf dieses Prozesses verwandelt sich der lebende Zahnbelag in einen Friedhof mineralisierter Bakterien. Für seine eben im renommierten Fachmagazin «Science» erschienene Studie untersuchte das Team um Warinner und Stallforth den Zahnstein von Neandertalern, die vor ungefähr 100‘000 bis 40‘000 Jahren lebten und von Menschen, die vor 30‘000 bis 150 Jahren lebten. Sie fanden darin eine Vielzahl von Erbgutfragmenten und setzen sie – ähnlich wie die Teile eines Puzzles – wieder zusammen zu sehr langen DNA-Abschnitten mit mehr als 100‘000 Basenpaaren.

Auf diese Weise rekonstruierten die Forschenden die Genome von zahlreichen Bakterienarten. Viele dieser Bakterien sind noch heute Teil der menschlichen Mundflora. Einige der Genome gehörten aber zu ungewöhnlicheren Bakterienarten, die bisher nicht beschrieben waren. Eines dieser Bakterien war ein unbeschriebenes Grünes Schwefelbakterium der Gattung Chlorobium. «Diese Bakterien gehören nicht zum typischen oralen Mikrobiom», sagt Pierre Stallforth.

Die Forschenden fanden Erbgut dieses Bakteriums im Zahnstein von sieben steinzeitlichen Menschen und Neandertalern. Die Chlorobium-DNA wies zwar starke Schädigungen auf, die typisch sind für uralte Erbgutproben. Trotzdem gelang es den Forschenden, mittels bioinformatischer Mittel die Fehler zu beheben und Verunreinigungen auszuschliessen. «Die Qualität der Genome, die wir rekonstruieren konnten, war beeindruckend», sagt Stallforth.

Heutige Bakterien als «Leihmütter»

Alle sieben Chlorobium-Genome enthielten ein Biosynthese-Gencluster – den Bauplan für Enzyme, welche Naturstoffe oder kleine Moleküle produzieren. Ein besonders gut erhaltenes Chlorobium-Genom wurde aus dem Zahnstein der etwa 19’000 Jahre alten «Roten Dame von El Mirón» rekonstruiert. Das 2010 in der nordspanischen Mirón-Höhle gefundene Skelett einer 35 bis 40 Jahre alten Frau erhielt diesen Namen, weil Teile davon mit einem roten Puder bestreut worden waren.

Um herauszufinden, was diese rätselhaften, alten Gene bewirkten, bauten die Forschenden sie mit modernsten biotechnologischen Methoden in lebende Bakterien ein. Tatsächlich bildeten diese modernen Bakterien aus den uralten Biosynthese-Genclustern funktionale Enzyme, aus denen wiederum zwei mikrobielle Naturstoffe entstanden. Die beiden Stoffe gehören zur Stoffgruppe der Furane, bilden jedoch eine neue, bisher unbekannte Familie. Die Forschenden nannten sie deshalb «Paläofurane». Sie vermuten, dass diese Moleküle eine Rolle spielten bei der Regulierung der Photosynthese der Chlorobium-Bakterien.

Laut Pierre Stallforth gab es während der Studie zwei Meilensteine, die den Forschenden zeigten, dass ihre Idee funktionierte: «Der eine war die Rekonstruktion von alter DNA in Genome, als es uns gelang, sehr, sehr grosse Erbgutstücke von mehr als 100’000 Basenparen zusammenzusetzen», erzählt Stallforth. Damit stieg die Wahrscheinlichkeit, Biosynthese-Gencluster zu finden. Der zweite Meilenstein war, als die Forschenden zeigen konnten, dass diese Gene tatsächlich in modernen Bakterien «funktionieren».


Ziel: Antibiotika finden

«Mit dieser Studie haben wir einen wichtigen Meilenstein erreicht, um die enorme genetische und chemische Vielfalt unserer mikrobiellen Vergangenheit aufzudecken», sagt Christina Warinner. In der Zukunft wollen die Forschenden die Abläufe, um alte Naturstoffe zu gewinnen, automatisieren oder zumindest in routinemässige Abläufe einbetten. So könnten sie eine Vielzahl an Biosynthese-Genclustern entdecken, am Computer analysieren und dann entscheiden, welche davon sie im Labor produzieren wollen. Unter den entstehenden Naturstoffen, so hoffen sie, werden auch solche sein, die als Antibiotika für die Pharmaindustrie von Interesse sind.

Möglich gewesen, sagen Warinner und Stallforth, sei diese Arbeit nur dank einer einzigartigen transdisziplinären Zusammenarbeit. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Gebieten der Archäologie, Bioinformatik, Mikrobiologie, Chemie und Biotechnologie trugen dazu bei, dass erstmals Moleküle «zum Leben erweckt» werden konnten, die bereits vor 100'000 Jahren produziert wurden.


> Die Studie in «Science»
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