Hoffnungsträger Erdwärme
Für die Tiefengeothermie war 2019 ein entscheidendes Jahr. Forschende der ETH Zürich konnten dank der Unterstützung der Werner Siemens-Stiftung in einem stillgelegten Belüftungsstollen im Gotthardmassiv ein weltweit einmaliges Untergrundlabor einrichten: das Bedretto Underground Laboratory for Geoenergies. Dort wird sich zeigen, ob und wie man die tiefe Erdwärme fördern kann, ohne gefährliche Erdbeben auszulösen.
Bis vor kurzem war wenig los im Bedretto-Tal. Die Sonnenhungrigen aus dem Norden liessen das Tal links liegen auf ihrem Weg nach Italien. Doch seit 2019 ist das Bedretto-Tal international ein Begriff – bei Forscherinnen und Forschern der Tiefengeothermie. Sie steuern ihr Fahrzeug nach dem Gotthardtunnel bei Airolo westwärts, das Tal hinauf, bis sie zu einem ehemaligen Belüftungsstollen des Furka-Tunnels der Matterhorn Gotthard Bahn gelangen. Dieser Stollen hat es in sich. Und das ist wörtlich zu verstehen: Darin befindet sich ein erstklassiges und weltweit einzigartiges Untergrundlabor zur Erforschung der Tiefengeothermie. Finanziert hat es die Werner Siemens-Stiftung. Im Bedretto-Untergrundlabor untersuchen renommierte Forschungsgruppen aus ganz Europa unter realitätsnahen Bedingungen das Verhalten des Granits bei Tiefenbohrungen und Stimulationen. Von Stimulationen spricht man, wenn man Wasser unter hohem Druck ins Gestein pumpt, worauf sich im Granit zahlreiche feine Spalten (sogenannte Klüfte) bilden (mehr dazu im Interview).
Das Paradies unter der Erde
Die Idee, aus dem stillgelegten Belüftungsstollen ein Untergrundlabor zu machen, hatte Domenico Giardini, Professor für Seismologie und Geodynamik an der ETH Zürich. Er ist ein renommierter Experte der Tiefengeothermie und hat schon im Felslabor Grimsel Forschung betrieben. Doch das Bedretto-Untergrundlabor eröffnet neue Dimensionen: Es befindet sich gut 2200 Meter im Berginnern, und über seiner Decke türmen sich mehr als 1000 Meter des Piz Rotondo, des höchsten Bergs im Gotthardmassiv – das Paradies auf Erden für Forscherinnen und Forscher der Tiefengeothermie. Das Bedretto-Untergrundlabor wurde jedoch nicht zu reinen Forschungszwecken errichtet. Vielmehr sollen die Versuche die Frage beantworten, ob die Tiefengeothermie in der Schweiz und anderswo eine Rolle in der zukünftigen Energieversorgung spielen kann – oder ob die Gefahr, durch Tiefenbohrungen und Stimulationen Erdbeben auszulösen, zu gross ist.
Die Energiestrategie der Schweiz
Die Schweiz will wie andere europäische Länder langfristig aus der Atomkraft aussteigen und die fossilen Brennstoffe Erdöl und Erdgas durch erneuerbare Energien ersetzen. Im Jahr 2007 entwarf der Bund eine erste Strategie für die Zukunft, wie die Energiewende vor sich gehen könnte. 2011 wurde das Ziel, die CO2-Emissionen zu reduzieren, erstmals im sogenannten CO2-Gesetz festgeschrieben. 2019 begannen der Bund und die Räte, eine Totalrevision des CO2-Gesetzes und damit eine Verschärfung der Reduktionsziele der CO2-Emissionen zu diskutieren. Aus den gesetzlichen Vorgaben, Strom vermehrt aus erneuerbaren und CO2-neutralen Quellen zu gewinnen, entwickelten die Energieexpertinnen und -experten – unter ihnen Domenico Giardini – die Idee, für die Zukunft eine erneuerbare Basisenergie zu erschliessen und diese mit den saisonal schwankenden Alternativenergien Wasser, Sonne und Wind zu ergänzen. Die nachhaltige Basisenergie muss das ganze Jahr hindurch Strom liefern, insbesondere auch im energiehungrigen Winter – was die Tiefengeothermie leisten könnte. Denn im Erdinnern ist es sommers wie winters gleich warm, in 2 Kilometern Tiefe sind es rund 60 Grad Celsius. Könnte man diese Wärme mit Hilfe von Wasser an die Oberfläche holen, könnte man auch im Winter daraus Strom gewinnen.
Welche Basisenergie?
Man könnte einwenden, Wasser und damit Wasserkraft sei in der Schweiz reichlich vorhanden und habe sich jahrzehntelang bewährt, weshalb sie sich besser als die Tiefengeothermie als Basisenergie eigne. Doch Domenico Giardini führt aus: «Zwar ist Wasserkraft heute die wichtigste Energiequelle und bietet den grössten Energiespeicher, doch wenn man sie weiter ausbauen wollte, würde das umfangreiche Infrastrukturerweiterungen bedingen. Dass ausreichend Wasserkraft zur Verfügung steht, hängt zudem stark vom Klimawandel, vom Wasserverbrauch sowie von wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Aspekten ab.» So gebe es gegen neue Staudämme oft Opposition, und das derzeit einzige konkrete Projekt sei ein neuer Staudamm beim Sustenpass, wo der Triftgletscher geschmolzen ist und einen See hinterlassen hat, den man nun stauen wolle. Wie viele solcher Staudämme gebaut werden müssten, damit die Wasserkraft die Rolle der Basisenergie übernehmen könnte, zeigt ein Rechenbeispiel: Die Schweizer Atomkraftwerke produzieren jährlich rund 25 Millionen Megawattstunden Strom und decken damit etwa 40 Prozent des Schweizer Strombedarfs. Wollte man sämtlichen Atomstrom durch Wasserkraft ersetzen, müssten gut 170 neue Staudämme gebaut werden, die so gross wären wie der geplante Trift-Staudamm, gibt Domenico Giardini zu bedenken. Und fügt an: «Der Bund rechnet in seiner Energiestrategie 2050 daher auch mit höchstens 10 Prozent Steigerung der Wasserkraft.»
Auch die Sonnenenergie eigne sich nicht als Basisenergie, führt Domenico Giardini weiter aus. Sie sei nur tagsüber, hauptsächlich im Sommer und bei klarem Wetter ausreichend zu gewinnen; das sei übers Jahr betrachtet nur zu 15 Prozent der Fall. Und Windenergie komme in der Schweiz als Basisenergie aufgrund der geringen gesellschaftlichen Akzeptanz der Windräder noch weniger infrage. Zudem wehe nur in wenigen Regionen genügend Wind, zum Beispiel im Jura.
Der richtige Mix
«Die bestehenden nachhaltigen Energiequellen Wasser, Sonne, Wind und heisses Thermalwasser können den Strombedarf im Winter nicht abdecken», fasst ETH-Professor Domenico Giardini das Problem zusammen. «Ich will damit aber nicht sagen, dass wir sie nicht nutzen sollen. Ich meine, dass wir einen guten Mix brauchen, der die Schweiz das ganze Jahr hindurch mit Energie versorgt.» Und da punktet die Tiefengeothermie: Sie liefert unabhängig von den Jahreszeiten Energie und wäre deshalb als Basisenergie geeignet – sofern die damit verbundenen Risiken akzeptierbar sind. Die Energiestrategie der Schweiz geht davon aus, dass die Tiefengeothermie bis ins Jahr 2050 rund 7 Prozent des Schweizer Strombedarfs abdecken könnte.
Um die offenen Fragen zur Energiewende zu klären, hat das Bundesamt für Energie 2013 beschlossen, der Energieforschung im Allgemeinen und der Tiefengeothermie im Besonderen Schub zu verleihen. Der Bund rief schweizweit acht Kompetenzzentren für Energieforschung ins Leben, und Domenico Giardini wurde beauftragt, die Leitung des «Swiss Competence Center for Energy Research – Supply of Electricity» zu übernehmen. Sein Vorschlag, aus dem ehemaligen Lüftungsstollen im Bedretto-Tal ein Untergrundlabor zur Erforschung der Tiefengeothermie zu machen, fand Zustimmung – doch wer sollte die enormen Kosten übernehmen? Domenico Giardini erzählt: «Die Werner Siemens-Stiftung war die Erste, die an das Bedretto-Untergrundlabor geglaubt und es substanziell unterstützt hat; das bewog dann zahlreiche weitere Interessierte und grosse Geldgeber wie die ETH Zürich und das Bundesamt für Energie, ebenfalls einzusteigen.» Seit Oktober 2019 ist auch die EU mit an Bord. Für die EU ist das Bedretto-Untergrundlabor interessant, weil dort das Wissen internationaler Forschungsgruppen über Erdbeben zusammenkommt. Von den daraus entstehenden Synergien verspricht sich der Europäische Forschungsrat (European Research Council, ERC) unter anderem eine Verbesserung der Erdbeben-Vorhersage in verschiedenen Ländern Europas wie zum Beispiel in Italien. Aus diesem Grund unterstützt der ERC das Forschungsprojekt von Domenico Giardini für die nächsten sechs Jahre mit einem ERC Synergy Grant in der Höhe von 14 Millionen Euro.
Grossprojekt
Mittlerweile ist das Bedretto-Untergrundlabor ein Grossprojekt, in dem die wichtigen staatlichen Organisationen, private Industrieunternehmen und relevante Forschungsgruppen aus dem In- und Ausland zusammenarbeiten, um herauszufinden, welche Rolle die Tiefengeothermie bei der Energieversorgung spielen kann. Die Industriepartner wurden von Anfang an in die Planung mit einbezogen, da sie die Technologie und die Geräte für die Experimente im Tunnel beisteuern und deren Tauglichkeit testen wollen. Hinzugezogen werden ausserdem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Europa, die im Bereich Tiefengeothermie arbeiten und forschen – insbesondere die finnischen Industrie- und Forschungspartner, deren erfolgreiches Verfahren im Bedretto-Untergrundlabor geprüft werden soll.
Forschung von Martin O. Saar
Einer der Hauptforscher, die Experimente im tiefen Felslabor durchführen, ist Professor Martin O. Saar. Er wurde 2015 von der ETH Zürich auf die von der Werner Siemens-Stiftung geschaffene Professur für «Geothermal Energy and Geofluids» berufen. Saar und seine Gruppe untersuchen die Spannungen im Gestein (stress measurement), bevor und während Wasser in den Granit gepresst wird. Mithilfe von Markern (tracers) können sie ausserdem herausfinden, wohin das Wasser fliesst und wie heiss das Gestein dort war. «Wir brauchen ein tiefgehendes Verständnis davon, was bei Tiefenbohrungen und Stimulationen im Fels passiert», betont Domenico Giardini. «Wenn wir dereinst für ein Geothermie-Kraftwerk vier bis fünf Kilometer tief bohren, kommen wir in einen Bereich, wo enormer Druck herrscht, und wir stören die natürlichen tektonischen Bewegungen. Auch wissen wir nicht, was das Wasser, das wir in grossen Mengen in den Fels pressen und heiss wieder an die Oberfläche holen möchten, über die Jahrzehnte bewirken wird.»
Tiefengeothermie muss sicher sein
Die Forschenden wissen zwar vieles, doch der Teufel steckt im Detail. Und diese Detailfragen werden die Versuche im Bedretto-Untergrundlabor beantworten müssen, will man die Tiefengeothermie als Teil der Energiestrategie 2050 in der Schweiz nutzbar machen. «Wenn die Versuche im Bedretto-Untergrundlabor schiefgehen, bleibt die Zukunft der Tiefengeothermie in der Schweiz fragwürdig», betont Giardini. «Nur wenn wir mit Sicherheit sagen können, dass das Risiko, durch Bohrungen ein gefährliches Erdbeben auszulösen, kontrollierbar ist, dürfen Tiefengeothermie-Kraftwerke zur Stromgewinnung gebaut werden. Darauf müssen die Behörden, die Bevölkerung, die Industrie und wir selbst vertrauen können.»
Und wie schätzt Domenico Giardini die Chancen für eine Etablierung der Tiefengeothermie in der Schweiz ein? Erstaunlich hoch: «Es braucht zwar etwas Zeit, bis alle Bereiche des täglichen Lebens mit nachhaltiger Energie versorgt werden können. Aber ich denke, im Jahr 2050 könnte und sollte jeder Kanton in der Schweiz ein Geothermie-Stromkraftwerk haben.»
Text: Brigitt Blöchlinger
Fotos: Felix Wey