Die Spannung steigt
Mit dem Zentrum für künstliche Muskeln in Neuenburg unterstützt die Werner Siemens-Stiftung ein innovatives Team, das eine neuartige Behandlungsmethode bei Herzschwäche entwickelt: Ein künstlicher Muskel in Form eines Rings um die Hauptschlagader soll das Herz entlasten. Bereits stehen die ersten präklinischen Studien an.
Mehr als 7000 Liter Blut pumpt unser Herz täglich durch den Körper. Eine gewaltige Leistung. Doch manche Menschen erleiden im Laufe ihres Lebens eine Herzschwäche. Diese wird bisher mit Medikamenten oder Herzpumpen therapiert – was nicht ganz risikofrei ist. Das Team um Professor Yves Perriard vom Zentrum für künstliche Muskeln der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) entwickelt deshalb am Standort Neuenburg als alternative Therapie einen künstlichen Ringmuskel. Dieser besteht aus einer elastischen Membran, die als Ring um die Hauptschlagader (Aorta) gelegt wird. Elektrische Impulse aus einer Batterie werden bewirken, dass sich die Membran entspannt, bevor sie sich wieder zusammenzieht. Der dabei entstehende Druck auf die Hauptschlagader unterstützt das Herz bei seiner Arbeit, Blut durch den Körper zu pumpen.
Die Pumpleistung erhöhen
Die Werner Siemens-Stiftung unterstützt das multidisziplinäre Forschungsteam aus Mikrotechnologie, Materialwissenschaft, Biomedizin und Chirurgie nun im dritten Jahr. 2020 gelangen dem Team wichtige Fortschritte bei ihrer grössten Herausforderung – die nötige Pumpleistung zu erzeugen. Noch dazu mit einer Membran, die biokompatibel ist, im Körper also keine Abstossungsreaktion hervorruft. Unser Herz arbeitet normalerweise mit einer Leistung von einem Watt. Im Falle einer schweren Herzschwäche müsste der künstliche Muskel 30 bis 50 Prozent dieser Leistung übernehmen. Idealerweise kommt der Aorta-Ring aber schon dann zum Einsatz, wenn die Herzschwäche noch leicht bis mittel ist. Dann würden 5 bis 10 Prozent Unterstützung genügen, um die normale Herzleistung zu erzielen. Das Herz könnte sich im Idealfall sogar erholen und später wieder ohne Aorta-Ring funktionieren. Das Ziel, einen Aorta-Ring mit entsprechender Leistung zu entwickeln, hat das Team bereits erreicht: «Derzeit vermag unsere Membran rund 10 Prozent der Herzleistung zu erbringen», sagt Projektleiter Yves Perriard. Die Arbeit geht aber weiter. 20 Prozent der Herzleistung werden nun angestrebt. Um 20 Prozent der Herzleistung zu erreichen, müssen die Forschenden Lösungen für die wichtigsten Elemente des künstlichen Muskels finden: das richtige Material, die nötige Anzahl Materialschichten und die passende Stromversorgung für den Aorta-Ring.
Optimierte Membran
Als Ausgangspunkt bei der Materialsuche setzte das Team auf Elastosil®, einen hauchdünnen Film aus Silikongummi. Dieser hat sich in Tests als vielversprechend erwiesen, weil er mit genügend Stromspannung versorgt werden kann, ohne brüchig zu werden. Die Forschenden haben den Silikongummi unter anderem in einer selbstentwickelten Anlage zur Simulation des Blutflusses im Körper getestet. Im Jahr 2021 stehen bereits erste präklinische Studien im Tiermodell an, um die Funktionsfähigkeit des Aorta-Rings zu prüfen. Parallel sucht das Team nach einem noch besseren Material für die Membran. Bereits liegt der Prototyp einer Eigenentwicklung vor. Entscheidend wird auch sein, wie viele Schichten Material für den Ring nötig sein werden. Um die Schichten zu verbinden, haben die Forschenden einen Klebstoff entwickelt – für den sie bereits ein Patent angemeldet haben.
Bis zu 7000 Volt
Grosse Fortschritte erzielte das Team bei der Stromversorgung des Aorta-Rings. Als Stromquelle dient eine 12-Volt-Batterie, welche der Patient oder die Patientin am Gürtel tragen wird. Mittels magnetischer Induktion wird die nötige Stromspannung von 5000 Volt erzeugt. Das entwickelte System könnte sogar 7000 Volt liefern, falls dies aufgrund der Materialwahl nötig sein würde. Das Motto aber ist: So wenig Stromspannung wie möglich, so viel wie nötig. Anfang 2021 werden die einzelnen Teile der Stromversorgung bereitsein und können an den Aorta-Ring angeschlossen werden. Dann wird das System auf seine Effizienz geprüft. Insbesondere möchten die Forschenden die im Aorta-Ring gespeicherte Spannungsenergie zurückgewinnen und sie dem Stromkreislauf wieder zuführen. In der präklinischen und später in der klinischen Phase werden die Neuenburger Wissenschaftler unter anderem mit der Universität Bern und dem Universitätsspital Zürich zusammenarbeiten. Ab 2025 wird der renommierte Herzchirurg Thierry Carrel den Aorta-Ring klinisch testen. Der künstliche Muskel aus Neuenburg soll nicht nur Menschen mit Herzschwäche helfen, sondern auch als künstlicher Schliessmuskel bei Blasenschwäche eingesetzt werden. Ausserdem könnte er Brandverletzten und Unfallopfern die Kau-Funktion und Mimik zurückgeben. Im Jahr 2020 hat das Forschungsteam mit den Vorarbeiten zu einem künstlichen Schliessmuskel für die Harnblase begonnen. Daraus gingen bereits zwei Patente hervor.
Text: Adrian Ritter
Foto: Felix Wey