«Es wäre ein Durchbruch für die Herzmedizin»
Der renommierte Schweizer Herzchirurg Thierry Carrel wird den künstlichen Muskel dereinst testen. Er kann sich durchaus vorstellen, dass der Ring um die Aorta bei Patientinnen und Patienten mit leichter Herzschwäche dazu führen wird, dass sich deren Herz wieder erholt.
Thierry Carrel, Sie werden den künstlichen Muskel für Patientinnen und Patienten mit Herzschwäche klinisch testen. Was hat Sie überzeugt, bei diesem Projekt mitzumachen?
Thierry Carrel: Die Idee, eine Art Muskelring um die Aorta zu legen, ist sehr kreativ. Die Forschenden um Yves Perriard denken in völlig neuen Bahnen, das gefällt mir. Ihre Entwicklung wäre ein Durchbruch für die Herzmedizin. Das wäre umso erfreulicher, als die Zahl der Patienten mit Herzschwäche aufgrund der steigenden Lebenserwartung bereits stark zugenommen hat und noch viel stärker zunehmen wird. Der künstliche Muskel würde die Behandlung von Herzschwäche um eine wertvolle Option erweitern.
Wie sieht die Behandlung heute aus?
Patientinnen und Patienten mit Herzschwäche werden heute vor allem mit Medikamenten behandelt. Wird das Herz zu schwach, kommen verschiedene Systeme der Herzunterstützung in Frage: Pumpen, welche die linke oder ausnahmsweise beide Herzkammern ersetzen, oder als letzte Option eine Herztransplantation. Diese Behandlungen haben allerdings grosse Nachteile. Die Medikamente haben Nebenwirkungen und helfen vor allem bei leichter Herzschwäche. Herzunterstützungssysteme und Transplantationen sind grössere operative Eingriffe, die gerade für ältere Patienten nicht gefahrlos sind. Zudem wissen wir alle: Es fehlt an Spenderherzen.
Für welche Patienten würde sich der neuartige künstliche Muskel eignen?
Wir hätten mit dem Aorta-Ring eine weitere Möglichkeit, das Herz zu unterstützen, statt es zu ersetzen. Der Ring könnte sich sowohl für Patienten eignen, die heute mit Medikamenten behandelt werden, als auch für gewisse Patienten, die ein Herzunterstützungssystem benötigen. Besonders vielversprechend scheint mir der künstliche Muskel für Patienten, deren Herz noch nicht zu stark geschwächt ist. Wenn das Herz früh genug damit unterstützt wird, könnte es sich im besten Fall sogar wieder erholen – und der Ring nach einer gewissen Zeit wieder entfernt werden. Herzschwäche könnte ins noch höhere Lebensalter verdrängt werden. Die entscheidende Frage für die klinische Anwendung wird sein: Wie viel Pumpleistung wird der künstliche Muskel zustande bringen?
Worauf hoffen Sie?
Wenn der künstliche Muskel einen Drittel bis die Hälfte der Herzleistung zu leisten vermag und wir das Herz entsprechend in diesem Umfang entlasten können, wäre das schon sehr gut.
Wie würde die Operation aussehen, um den Ring um die Aorta zu platzieren?
Ganz genau lässt sich das noch nicht sagen, denn es hängt auch davon ab, ob die Stromversorgung für den Muskelring innerhalb oder ausserhalb des Körpers platziert wird. Der Aorta-Ring selbst benötigt keine grosse Operation – ganz im Unterschied zu einer herkömmlichen Herzoperation. Die Aorta liegt gleich hinter dem Brustbein. Es wird vermutlich reichen, einen Drittel bis die Hälfte des Brustbeins zu öffnen. Die Membran und die Titanfeder würden um die Aorta gelegt und dann zu einem Ring verschlossen. Falls nötig, wird man mehr als einen Ring platzieren, um die nötige Pumpleistung zu erreichen.
Was wären die Vorteile der neuen Methode?
Ein grosser Vorteil besteht darin, dass der künstliche Muskel nicht Teil des Kreislaufsystems sein wird. Die Anforderungen an die Biokompatibilität und die Risiken sind deshalb weit geringer als etwa bei einer heutigen Herzpumpe – Stichwort: Thrombosen und Infektionen. So wird es auch nicht nötig sein, dass Patienten mit einem Aorta-Ring Medikamente wie Blutverdünner einnehmen. Aus all diesen Gründen ist der künstliche Muskel eine erfreulich sanfte, wenig invasive Behandlung.
Die Polymer-Membran soll auch als Schliessmuskel für die Harnblase und als kleiner Muskel im Gesicht – etwa bei Lähmungen nach einem Schlaganfall – verwendet werden. Wäre es denkbar, dass die künstlichen Muskeln noch bei anderen gesundheitlichen Problemen helfen könnten?
Das ist nicht ausgeschlossen. Entscheidend wird auch hier sein, wie viel Leistung sich mit künstlichen Muskeln erzeugen lässt. Vielleicht könnten künstliche Muskeln eines Tages Patienten mit degenerativen Muskelerkrankungen oder einer halbseitigen Lähmung helfen, länger selbstständig zu bleiben. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass das Team von Yves Perriard auch von Medizinern aus anderen Fachbereichen kontaktiert wird, wenn sie die ersten Ergebnisse ihrer Forschung und Entwicklung publizieren. Plötzlich wird man vielleicht Anwendungen sehen, die wir uns heute noch nicht vorstellen können.
Alles in allem, wie zuversichtlich sind Sie?
In der Medizin sind in den letzten Jahrzehnten neue Möglichkeiten der Diagnose und Therapie entstanden, von denen ich nie geträumt hätte – neue Systeme von künstlichen Herzklappen beispielsweise. Wir wissen nicht, wo die Medizin in zwanzig Jahren stehen wird. Big Data, Stammzellen, Chips und Sensoren – vielleicht wird es uns Ärzte kaum noch brauchen… Sicher ist: Das Team am Zentrum für künstliche Muskeln denkt enorm innovativ. Es ist eine Freude, dass solches nicht nur im Silicon Valley zu finden ist.
Interview: Adrian Ritter
Fotos: Felix Wey