Schmerzbekämpfung mit VR-Brille
Jasmine Ho hat während ihrem MedTech Entrepreneur Fellowship an der Universität Zürich eine Methode entwickelt, um Menschen mit chronischen Schmerzen mithilfe virtueller Realität zu behandeln. Nun entwickelt die Neuropsychologin ihren Ansatz in zwei Nationalfonds-Projekten weiter. Und plant die Gründung eines Start-ups.
Ihren ersten Ausflug in die virtuelle Realität (VR) machte Jasmine Ho während ihres Studiums in den USA. Ein Freund hatte eine VR-Brille und liess Ho mit deren Hilfe durchs Weltall fliegen. «Es war spannend und lässig», sagt die Neuropsychologin. «Aber mir ist schlecht geworden.» Sie erlebte, wie real ein solches System wirkt – und welche Auswirkungen das Eintauchen in eine künstliche Welt auf den Körper haben kann.
«Mir war sofort klar, dass die virtuelle Realität auch in der Medizin ein Potenzial hat – ich wusste aber noch nicht wie», erzählt Ho. Weil sie das Thema faszinierte, nahm sie eine Doktorandenstelle am Psychologischen Institut der Universität Zürich an. Sie untersuchte Probandinnen und Probanden mit einer sogenannten Body Integrity Dysphoria. Bei dieser seltenen Form einer Identitätsstörung haben Menschen das Gefühl, ein Körperteil – oft ein Bein – gehöre nicht zu ihrem Körper. Sie haben das Bedürfnis, die betroffene Gliedmasse zu amputieren – obwohl sie voll funktionsfähig ist. Betroffene würden nicht etwa unter einer Psychose oder unter einem Hirntrauma leiden, sagt Ho. «Sie leiden darunter, dass ihr Aussehen nicht mit ihrem eigenen Körperbild übereinstimmt.»
In einem Virtual-Reality-Setting im Labor kreierte Ho für die Patientinnen und Patienten Avatare, die dem gewünschten Körperbild entsprachen, also mit einer amputierten Gliedmasse. Bei diesen Studien sei es darum gegangen, mehr über die neurophysiologischen Grundlagen einer virtuellen Verkörperung von Body Integrity Dysphoria herauszufinden – nicht darum, Betroffene zu therapieren, sagt Ho. Doch bereits in diesem Umfeld habe sich gezeigt, dass VR das Empfinden einzelner Körperteile verändern und das Leiden in betroffenen Patienten reduzieren könne.
Idee im Hauptbahnhof
Ihr Schlüsselerlebnis hatte Jasmine Ho, als sie im Jahr 2019 während eines Anlasses im Hauptbahnhof Zürich eine Rede hielt über virtuelle Realität und ihre Einsatzmöglichkeiten in der Medizin. Gegen Schmerzen existieren beispielsweise VR-gestützte Atemübungen. Für Patienten mit einem Schlaganfall gibt es VR-Spiele, um bestimmte Bewegungen zu trainieren. Und für Menschen mit Essstörungen existieren virtuelle Lebensmittelläden, in denen sie üben können, gesund einzukaufen.
Ho erwähnte in ihrem Referat auch die Möglichkeit, mit VR chronische Schmerzen zu bekämpfen. Nach dem Vortrag, erzählt Ho, sei eine Dame zu ihr gekommen und habe gesagt: «Bitte, bitte, wo kann man das machen, ich brauche das unbedingt!» «Ich musste ihr sagen, dass das bisher noch nicht angewandt wird – aber ich merkte: Es besteht ein Bedürfnis.»
Ho nahm an einem Bootcamp der Universität Zürich teil – und wurde am Ende von einer Jury mit dem besten Pitch ausgezeichnet. Das motivierte sie, sich für ein MedTech Entrepreneur Fellowship zu bewerben. Auch hier war sie erfolgreich. Im Rahmen dieses von der Werner Siemens-Stiftung finanzierten Förderprogramms entwickelte sie einen ersten Prototyp eines VR-Programms, um Patienten mit chronischen Schmerzen zu behandeln.
In Körperbild gefangen
Nicht immer können Ärztinnen und Ärzte den Herd von chronischen Schmerzen körperlich nachweisen. «Die Körperwahrnehmung der Patienten spielt ebenfalls eine Rolle. Manche haben das Gefühl, der schmerzende Körperteil sei angeschwollen, obwohl sich das nicht messen lässt», sagt Jasmine Ho. Solche Gefühle können sich verfestigen, sodass die Signale, die von Sinnesorganen aufgenommen werden, im Gehirn nicht mehr richtig übersetzt werden. «Unsere Hypothese ist, dass diese Menschen in einem gewissen Körperbild gefangen sind. Mithilfe virtueller Realität versuchen wir, dieses festgefahrene System zu verwirren und Körperempfindungen zu verändern.»
In ihren Experimenten liess Ho Menschen mit chronischen Arm- oder Handschmerzen verschiedene Avatare ausprobieren: Durch die VR-Brille sieht ein Patient seine Hand beispielsweise blau oder transparent, länger oder kürzer. Blau ist ein Zeichen von Kälte, könnte also einem Patienten mit brennenden Schmerzen den Eindruck einer Linderung geben. Tatsächlich, erzählt Ho, habe das einer Patientin Erleichterung gebracht. «Sie bewegte ihre Hand im Alltag wieder deutlich mehr.» Den Arm oder die Hand in der virtuellen Realität zu verlängern, könnte bei Arthrose eine Strategie sein: Sieht die Patientin die längere Gliedmasse, bekommt sie das Gefühl, auf dem schmerzenden Gelenk laste weniger Druck.
Kombination mit psychoaktiven Substanzen
Die Studien zeigten, dass das Eintauchen in eine virtuelle Realität bei vielen Patienten tatsächlich starke Veränderungen von körperlichen Empfindungen hervorrief. Sogar dann, wenn die Forscherin das schmerzende Körperteil in der virtuellen Realität gar nicht veränderte. Ein Patient habe während zwei Wochen vier VR-Sessions absolviert, erzählt Ho. «Anfangs trug er 24 Stunden am Tag eine Bandage und konnte nicht arbeiten, nach der Behandlung trug er sie kaum noch und ging wieder zur Arbeit.»
Unterstützt durch zwei Grants des Schweizerischen Nationalfonds, entwickelt Jasmine Ho ihr vielversprechendes System nun als Postdoktorandin an der Universität Zürich weiter. Während des Medtech Entrepreneur Fellowships lernte sie einen Forscher kennen, der mit psychoaktiven Substanzen arbeitet. Daraus entstand eine Zusammenarbeit. «Unsere Idee ist es, dass diese psychoplastogenen Substanzen das Gehirn empfänglicher machen für die einströmenden Signale während der VR-Behandlung», sagt Ho. Die Behandlung, so hofft sie, könnte dadurch noch besser werden.
Die Studien werden einige Jahre dauern. Aber falls Jasmine Ho und ihr Team die Wirksamkeit ihrer Behandlungsmethode nachweisen können, möchte sie ein Start-up gründen. Denn der Bedarf an neuen Methoden gegen chronische Schmerzen ist enorm: Weltweit leidet gemäss Schätzungen jede fünfte Person an chronischen Schmerzen. Die virtuelle Realität könnte dereinst mithelfen, solchen Menschen zu helfen.