Überwachte Heilung
Bei Knochenbrüchen setzt die Medizin bisher auf Standardimplantate: Eine Schiene wird mit dem gebrochenen Knochen verschraubt – egal, ob der Knochen verdreht, gebogen oder gestaucht wurde. Bei jeder zehnten Frakturbehandlung treten daher auch Komplikationen auf. Am Universitätsklinikum des Saarlandes entwickelt nun ein interdisziplinäres Team intelligente Implantate, die den gebrochenen Knochen nicht nur stabilisieren, sondern während der Heilungsphase auch individuelle Fehlbelastungen erkennen und dann gegensteuern.
Die Behandlung von Knochenbrüchen erlebte bislang zwei Revolutionen: In den 1960er-Jahren wurden Frakturen erstmals mithilfe von Platten fixiert, sodass Patientinnen und Patienten nicht mehr wochenlang mit Gips herumlaufen mussten. Rehabilitationszeiten verkürzten sich, Fehlstellungen wurden verhindert und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit minimiert. Allerdings gab es lange Zeit nur einige wenige standardisierte Platten, die für Skiunfälle entwickelt worden waren. Für komplexe Spiralbrüche oder Trümmerfrakturen, wie sie etwa bei Verkehrsunfällen auftreten, eigneten sich diese Platten nur bedingt. Als zweite Revolution kann deshalb die Entwicklung zahlreicher neuer Implantate ab den 1980er-Jahren bezeichnet werden. Das Universitätsklinikum Saarland hat sich nun zum Ziel gesetzt, die dritte Revolution in der Behandlung von Frakturen einzuleiten. Gemeinsam mit Projektpartnern aus den Bereichen Technische Mechanik, Mechatronik und Informatik wollen die Mediziner intelligente Implantate entwickeln. Diese sollen die Heilung von Frakturen überwachen und wenn nötig positiv beeinflussen – und zwar autark, also ohne dass Arzt oder Patient etwas dafür tun müssen.
Individuelle Frakturbehandlung
Heute kommt es nach Frakturbehandlungen in rund jedem zehnten Fall zu Komplikationen. Die Betroffenen leiden an Schmerzen und brauchen Nachbehandlungen. Das belastet nicht nur sie, sondern auch die Gesellschaft: Wegen der verlängerten Therapie steigen die Gesundheitskosten, und die Patientinnen und Patienten können ihrer Arbeit nicht nachgehen. «Durch innovative Techniken könnte die Frakturbehandlung individueller, sicherer und kostengünstiger werden», sagt Projektleiter Dr. Marcel Orth vom Universitätsklinikum Saarland. Grundlage für die intelligenten Implantate sollen die Standardplatten sein, wie sie heute schon für die Stabilisierung von Knochenbrüchen eingesetzt werden. Auch externe Fixierungen kommen als Träger infrage, denn sie haben den Vorteil, dass sie die sensiblen Weichteile besser schonen. An die Standardplatte oder an die Fixierung soll dann eine Schicht aus «intelligenten» Materialien angebracht werden. Die neuen Materialien sind insofern intelligent, als sie über sensorische und aktorische («selbst handelnde») Eigenschaften verfügen (siehe Interview Seite 48–49). Mechatroniker des Zentrums für Mechatronik und Automatisierungstechnik (ZeMA) in Saarbrücken feilen derzeit daran, diese neuen Technologien aus der Materialtechnik erstmals überhaupt auf den Medizinbereich zu übertragen.
Intelligente Implantate
Ziel ist, dass das intelligente Implantat drohende Fehlbelastungen des gebrochenen Knochens erkennt und darauf reagiert. Wirken beispielsweise zu starke Kräfte auf die Fraktur, versteift sich das Implantat und schont damit den Knochen. Bewegt sich der Patient zu wenig, verformt es sich und wird flexibler, sodass der Knochen stärker belastet wird. Es kann extern überwacht werden, etwa von einem Rechner oder einem Smartphone. Nach der Heilung wird es entfernt. Geplant ist, die intelligenten Implantate modular herzustellen, als miteinander kombinierbare Bauteile. Dadurch sind sie in allen Formen und Grössen verfügbar. Und es macht die Nachbehandlung einfacher.
Damit die intelligenten Implantate dereinst die Heilung unterstützen können, muss aber zuerst klar sein, unter welchen Umständen Knochenbrüche am besten heilen und wann es zu Komplikationen kommt. «Zurzeit weiss niemand sicher, warum Heilungsstörungen auftreten», sagt Professor Tim Pohlemann, Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie am Universitätsklinikum des Saarlandes. Bisher können die behandelnden Ärzte der Patientin oder dem Patienten nach einem Eingriff bloss Anweisungen geben, wie stark der Knochen belastet werden darf. «Danach kann man nur noch Daumen drücken und hoffen.» Welche Belastung wie zur Heilung beiträgt, ist weitgehend unbekannt. Zudem weisen Resultate aus Voruntersuchungen darauf hin, dass selten getan wird, was Ärztinnen und Ärzte verordnen. «Vermutlich gelingt es Patienten im Alltag gar nicht, den Knochen korrekt, beispielsweise mit halbem Körpergewicht, zu belasten», so Pohlemann.
Den Heilungsprozess verstehen
Ein wichtiger Teil und eine der grössten Herausforderungen des Projekts besteht deshalb darin, den Heilungsprozess richtig zu verstehen. Die ersten Untersuchungen dazu laufen. Testpersonen mit einer Fraktur am Unterschenkel tragen intelligente Schuhsohlen, die mithilfe von 16 Drucksensoren 82 Werte pro Schritt aufzeichnen. Auf diese Art und Weise können die Kräfte eruiert werden, die auf die lädierten Knochen wirken. Weitere Simulationen und Experimente am Lehrstuhl für Technische Mechanik der Universität des Saarlandes helfen zu verstehen, was mit den Knochen genau geschieht, wenn sie den Belastungen des Alltags ausgesetzt sind. Welche Verhaltensweisen die Heilung begünstigen und welche eher zu Komplikationen führen, soll mithilfe von künstlicher Intelligenz (maschinellem Lernen) herausgefunden werden. Aufgrund der Testdaten entwickeln Fachleute des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) Algorithmen, die präzise Voraussagen dazu machen, unter welchen Umständen eine Heilung zu erwarten ist. Dabei definieren sie für diverse Parameter wie etwa Krafteinwirkung oder Dehnung Grenzwerte. Die Informatiker nutzen auch Technologien der Bilderkennung, sodass aufgrund von Fotos Prognosen zum Heilungsverlauf der Fraktur möglich werden. Bis 2025 will das Projektteam den ersten Prototypen eines intelligenten Implantats gebaut und erstmals an Tierversuchen getestet haben. Bis die neue Technologie für Frakturbehandlungen am Menschen eingesetzt werden kann, dürfte es aber wegen aufwändiger Zulassungsverfahren wohl noch rund zwei Jahrzehnte dauern. Doch Projektleiter Marcel Orth findet, dass sich die Geduld lohnt. «Anderswo, beispielsweise beim Autofahren, sind smarte Anwendungen längst Standard. Es gibt keinen Grund, warum die innovativen Technologien aus der Materialtechnik nicht auch in der Medizin von grossem Nutzen sein könnten.»
Text: Andres Eberhard
Fotos: Oliver Lang