In Zellen hineinschauen
Die Forschenden am «Werner Siemens Imaging Center» in Tübingen haben Erfolg: Sie bringen verschiedene bildgebende Diagnosemethoden zusammen und entwickeln so neue Verfahren, die ein vielschichtiges Bild einer Erkrankung liefern. Dadurch wird es in naher Zukunft möglich sein, den Erfolg unterschiedlicher Therapien individuell für Patientinnen und Patienten vorherzusagen und zu steuern – ein wichtiger Schritt in Richtung personalisierte Medizin.
Krankheiten sind individuell. Wir Menschen sind nicht nur aufgrund unserer genetischen Anlagen und unseres Lebensstils anfällig für unterschiedliche Krankheiten. Patientinnen und Patienten sprechen auch nicht gleich gut auf Therapien an und leiden unterschiedlich stark an Nebenwirkungen. Besonders ausgeprägt ist das bei Krebs. «Jeder Tumor jedes Patienten ist anders, und jede Metastase hat wiederum andere Eigenschaften», erklärt Professor Bernd Pichler, Leiter des «Werner Siemens Imaging Center» (WSIC). Zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen am WSIC macht er sichtbar, worin diese Unterschiede bestehen und wie sie sich in der Therapie nutzen lassen. Dazu entwickeln die rund 60 Forschenden am WSIC neue bildgebende Diagnoseverfahren und verknüpfen verschiedene Verfahren miteinander. «So erhalten wir ein ganzheitlicheres Bild einer Erkrankung – und damit ein besseres Verständnis dafür, wie sie bekämpft werden kann», sagt Pichler. An Mäusen untersuchen sie insbesondere Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Entzündungsprozesse. Ihre Erkenntnisse aus dem Tiermodell überführen sie in Zusammenarbeit mit dem Uniklinikum Tübingen in die klinische Praxis, sodass sie rasch Patientinnen und Patienten zugutekommen.
Blick in den Stoffwechsel
Eine einzigartige Methode nutzt seit 2019 WSIC-Gruppenleiter Dr. André Martins: die hyperpolarisierte Bildgebung. Damit lassen sich Vorgänge im Stoffwechsel von Zellen im Magnetresonanz-Tomographen (MRT) sichtbar machen. Solche zellulären Prozesse sind bei vielen Erkrankungen entgleist. Der Clou der Methode: Sie verändert den magnetischen Zustand eines Stoffwechselmoleküls, sodass es im MRT 10 000-mal sichtbarer wird. Dadurch ist es einfacher, auch jene Moleküle zu erkennen, die nur in sehr kleinen Mengen vorkommen. Und: Messungen, die zuvor fast vier Tage dauerten, erhält man damit in zehn Sekunden. Allerdings ist dafür eine besondere Vorbereitung der Moleküle nötig. Ein spezielles Gerät bringt sie in Lösung innerhalb von Millisekunden auf minus 270 Grad Celsius, von da auf plus 180 Grad Celsius und wieder zurück auf Körpertemperatur. Danach haben die Forschenden nur zwei Minuten Zeit, um die MRT-Messung durchzuführen, bevor der magnetische Effekt wieder verschwindet. Mit dieser heiklen, aber sehr lohnenden Methode verfolgt Martins mit seinem Team etwa die Umwandlung des Stoffwechselmoleküls Pyruvat in Lactat. So hat er erste Hinweise darauf entdeckt, dass Ratten, die ein vergleichsweise hohes Risiko für einen Schlaganfall aufweisen, in den anfälligen Gehirnregionen mehr Lactat produzieren als weniger gefährdete Ratten. Diese Beobachtung könnte künftig zur Abschätzung des Schlaganfall-Risikos dienen. Auf eine ähnliche Weise macht das Team in Krebstumoren sichtbar, welche der malignen Zellen einen intensiveren Stoffwechsel haben und aggressiver sind. Für seine Arbeit hat Martins 2020 den renommierten, mit 1,65 Millionen Euro dotierten Sofja Kovalevskaja-Preis erhalten.
Effektivere Immuntherapie
Am intensivsten untersuchen die Forschenden am WSIC die Wirksamkeit der Immuntherapie. Sie gilt seit einigen Jahren als grosse Hoffnung in der Krebsmedizin. Dabei werden körpereigene Immunzellen, die T-Zellen, dazu angeregt, Tumorzellen zielgerichteter anzugreifen. «Die T-Zellen haben eine komplizierte Aufgabe: Sie müssen zum vom Krebs betroffenen Organ gelangen, in das Gewebe eindringen und dort jede einzelne Zelle überprüfen», erklärt WSIC-Gruppenleiterin Dr. Bettina Weigelin. Das funktioniere bei manchen Krebsarten und bei manchen Patientinnen oder Patienten gut, doch bei manchen nur teilweise oder gar nicht. «Wir wollen herausfinden, warum das so ist und wie wir auch die bisher resistenten Tumorzellen zerstören können.» Seit 2019 baut Weigelin dazu eine einzigartige Mikroskopie-Infrastruktur auf. Bereits in Betrieb ist das Fluoreszenzmikroskop für Zellkulturen. Damit kann Weigelins Team dem Kampf zwischen Immun- und Tumorzellen quasi live zuschauen. So haben die Forschenden beobachtet, dass aggressivere Tumorzellen, die das Gewebe stärker infiltrieren, bisher meist als einzige von den Immunzellen wirksam angegriffen werden. Noch tiefer gehende Erkenntnisse verspricht sich Weigelin künftig von der neuen Mikroskopie-Anlage, die ab Anfang 2021 am WSIC einen ganzen Raum einnehmen wird. Mit diesem sogenannten Intravitalmikroskop lässt sich die Immuntherapie im lebenden Organismus abbilden. Zudem wird das Team damit auch mit infrarotem Laserlicht arbeiten können. Dieses dringt in tiefere Gewebeschichten vor und macht so einen grösseren Teil eines Tumors sichtbar. So werden die Forschenden dann noch besser erkennen, wie Immunzellen betroffene Organe und Gewebe erreichen und welche Tumorbereiche sie wirksam bekämpfen.
Starke Kombination
Zusätzliche Aussagekraft bekommen diese beiden Methoden – die hyperpolarisierte MRT-Bildgebung und die Fluoreszenzmikroskopie –, wenn sie miteinander verknüpft werden. Die Fluoreszenzmikroskopie liefert Informationen zu den Vorgängen in verschiedenen Geweben – wie Haut, Muskeln, Blutgefässe – und zur Reaktion einzelner Zellen auf eine Therapie. Die hyperpolarisierte MRT-Bildgebung steuert Erkenntnisse zur Anatomie und zu den molekularen Stoffwechselprozessen innerhalb des ganzen Organismus bei. «Es ist ein bisschen wie bei Google Maps», sagt André Martins. «Kombiniert sehen wir die Prozesse aus verschiedenen Blickwinkeln und in verschiedenen Grössenordnungen.»
Individualisierte Krebstherapien
Schon zuvor hatten die Forschenden am WSIC in einem einzigen Gerät die Positronen-Emissions-Tomographie mit der Magnetresonanz-Tomographie kombiniert und dadurch wertvolle Hinweise für eine bessere Behandlung erhalten. Letztlich arbeiten die Forschenden darauf hin, voraussagen zu können, welche Therapieform bei welchen Patientinnen und Patienten am besten wirken wird. Jüngst haben sie ihre Erkenntnisse zur exakten Charakterisierung von Brustkrebs erfolgreich in einer klinischen Studie mit Menschen getestet. Auch zur Therapie von Darmkrebs laufen derzeit Forschungsarbeiten, erzählt Bernd Pichler: «Auch hier sieht es sehr gut aus.»
Text: Santina Russo
Fotos: Oliver Lang