
Ein neues Bild des Körpers
Bildgebende Verfahren werden in nahezu allen medizinischen Fachbereichen eingesetzt. Und sie werden wichtiger: Die Forschung ermöglicht immer neue Einblicke in die winzigsten Körperstrukturen, wie ein Besuch am Werner Siemens Imaging Center in Tübingen zeigt.
Eine passendere Adresse für das Werner Siemens Imaging Center (WSIC) in Tübingen hätte man sich nicht ausdenken können: Das Institut befindet sich am Röntgenweg, den die Stadt im Jahr 1956 nach dem Entdecker der Röntgenstrahlen benannte. Mit seiner 1895 gemachten Entdeckung gilt Wilhelm Conrad Röntgen als Vorreiter der modernen medizinischen Bildgebung. Dank ihm konnten Ärztinnen und Ärzte erstmals in den Körper hineinschauen, ohne ihn aufschneiden zu müssen.
Inzwischen gibt es diverse andere Techniken, die das ermöglichen. Am WSIC, dessen Gebäude am Röntgenweg im Jahr 2014 eröffnet wurden, erforschen unter der Leitung von Professor Bernd Pichler 15 Forschungsgruppen mit insgesamt ungefähr 140 Mitarbeitenden viele dieser modernen bildgebenden Methoden – und entwickeln sie weiter. «Möglich wurde dies nur dank der jahrelangen Förderung der Werner Siemens-Stiftung», sagt Bernd Pichler, «ohne sie wäre das hier ein kleines Labor mit fünf Leuten geblieben.»
Denn die Unterstützung, welche die WSS kürzlich um eine neue 10-Jahres-Förderperiode erneuert hat, ist nötig, damit das WSIC hochkarätige Forschung betreiben kann. Und nur wer Top-Forschung macht, hat Chancen auf zusätzliche Forschungsgelder – und somit zu wachsen. Die Gruppe hat in den vergangenen 20 Jahren insgesamt mehr als 100 Millionen Euro Fördergelder eingeworben.
Diesbezüglich ist 2025 ein wichtiges Jahr für das WSIC: Es steht der Erneuerungsantrag für den Exzellenz-Cluster iFIT der Deutschen Forschungsgemeinschaft an, an dem das WSIC federführend beteiligt ist. iFIT steht für «Image-Guided and Functionally Instructed Tumor Therapies». Pichler hofft auf einen neuerlichen Förderumfang von ungefähr 80 Millionen Euro für sieben Jahre. «Es ist der einzige Exzellenz-Cluster im Bereich Onkologie in ganz Deutschland», sagt Pichler. «Für uns ist iFIT vor allem auch strategisch enorm wichtig.»
«Schlafende» Tumorzellen
Die Onkologie ist einer der Schwerpunkte am WSIC. Tumore lassen sich mit modernen bildgebenden Methoden auf verschiedene Weise sichtbar machen. Ein wichtiges Feld, das Bernd Pichler und sein Team in den letzten Jahrzehnten massgeblich geprägt haben, ist die Herstellung von sogenannten Tracern, sehr schwach radioaktiv markierte Substanzen.
Sie werden in den Körper eingebracht und nehmen zum Beispiel an Stoffwechselprozessen teil oder binden an Strukturen auf der Zelloberfläche. Für den Körper sind sie bis auf sehr geringe Dosen radioaktiver Strahlung ungefährlich, aber dank der Markierung lassen sie sich mit nuklearmedizinischen Verfahren – etwa durch sogenannte Positronenemissionstomografen (PET) – nachweisen.
Auf diese Weise können Forschende Gewebe-Erscheinungsbilder, Stoffwechselvorgänge in Organen oder gewisse Zellstadien unterscheiden. Manche Tumorzellen etwa befinden sich in einem sogenannten seneszenten Zustand. Sie haben aufgehört, sich zu teilen, leben aber weiter – und können aus diesem «Schlaf» heraus das Wachstum anderer Tumorzellen ankurbeln. Es habe sich sogar gezeigt, dass Krebstherapien bei soliden Tumoren eine solche Seneszenz auslösten, erzählt Pichler. «Das ist ein zweischneidiges Schwert: Einerseits vermehren sich diese Zellen nicht mehr, andererseits lösen sie bei nicht-seneszenten Zellen ein noch stärkeres Tumorwachstum aus. Deshalb ist es wichtig, solche Zellen aufzuspüren und im richtigen Moment mit Medikamenten zu zerstören.»
Bernd Pichler und sein Team haben vielversprechende Tracer zum Nachweis von seneszenten Tumorzellen entwickelt. Eine klinische Phase-1-Studie ist bereits abgeschlossen, der dabei getestete Tracer hat sich als sicher in Patientinnen und Patienten erwiesen. Nun läuft eine Phase-2-Studie. «Und es sieht gut aus», erzählt Pichler. Eine entsprechende Studie ist bei einem hochrangigen wissenschaftlichen Journal eingereicht. Zudem, sagt der Leiter des WSIC, habe sein Team inzwischen bereits Seneszenz-Tracer entwickelt, die drei bis fünf Mal genauer seien als der momentan getestete Tracer.
An der Entwicklung von PET-Tracern arbeitet auch Anna Junker, die neueste Professorin und Gruppenleiterin am WSIC. Sie hat Anfang 2024 eine Professur für Radiochemie und Entwicklung von bildgebenden Sonden an der Universität Tübingen übernommen. Institutsleiter Bernd Pichler ist glücklich über ihre Ernennung. «Sie bringt sehr spannende neue Ansätze, neue Themen und neue Inputs in unser Team», sagt er.


Chemie und Pharmazie
Anna Junker verbindet nämlich Kenntnisse und Erfahrungen aus zwei Kernbereichen der Tracer-gestützten medizinischen Bildgebung: Chemie und Pharmazie. Das Pingpong zwischen diesen beiden Fächern begann bei ihr bereits mit der Studienwahl. Sie studierte in Münster Pharmazie – aber erst im zweiten Anlauf, wie sie erzählt. Aufgrund eines Missverständnisses beim Antrag für die Studienplatzvergabe bekam sie einen Pharmazie-Studienplatz in Halle zugeteilt. «Dorthin wollte ich aber nicht», sagt sie. Kurzerhand schrieb sie sich in Münster für Chemie ein, wo es noch freie Studienplätze gab.
Ihre Absicht war es, nach dem ersten Semester ins Pharmazie-Studium in Münster zu wechseln – was sie auch tat. «Allerdings gefiel mir die Chemie derart gut, dass mir der Wechsel schwerfiel», sagt sie. Bereut hat sie den Schritt zur Arzneikunde trotzdem nie – zumal sich im dritten Semester ein neuerlicher Seitenwechsel anbahnte. Sie erinnere sich noch gut, erzählt Anna Junker. «Ich sass in einer Chemievorlesung bei Professor Bernhard Wünsch und war begeistert. Ich sagte zu meiner Sitznachbarin: Das, was er macht, will ich auch tun.»
Bernhard Wünsch entwickelt sogenannte Liganden, chemische Verbindungen, welche Rezeptoren in Zellmembranen aktivieren oder blockieren können. Anna Junker promovierte bei ihm – mit einem Abstecher nach Japan – und entwickelte erste radiofluorierte Tracer-Moleküle. «Als mein erster PET-Tracer in einer Maus getestet wurde, war das ein Aha-Moment», sagt sie. «Erstmals sah ich eines meiner Moleküle in einem lebenden Organismus.»
Sie merkte, dass ihr die organische Chemie sehr gut gefiel – aber medizinisch-pharmazeutische Anwendungen ihr noch mehr zusagten. Bis sie ihr genaues Feld fand, dauerte es allerdings noch einmal einige Jährchen: Sie war zuerst Postdoc in der Gruppe von Professorin Christa Müller an der Universität Bonn, was eine enge Zusammenarbeit mit einer Pharmafirma beinhaltete. Danach ging sie mit einem Forschungsstipendium für ein Jahr an die National Institutes of Health (NIH) nach Bethesda in den USA zu Professor Kenneth Jacobson, einem der Vorreiter der Erforschung sogenannter Adenosin-Rezeptoren, die bei einer Vielzahl von Erkrankungen eine Rolle spielen. «Das war nicht Imaging, sondern medizinische Chemie», erzählt Junker.
Die nächste Station war wieder Münster, wo sie mit einem Postdoc-Förderprogramm die Möglichkeit bekam, eigenständig an Rezeptoren zu arbeiten, die bei Prostatakrebs eine Rolle spielen. Gleichzeitig bewarb sie sich erfolgreich für eine Förderung über das Emmy-Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Sie erhielt für eine Förderperiode von sechs Jahren 1,3 Millionen Euro. «Das war entscheidend», sagt Anna Junker. «Ich konnte meine eigene Forschungsgruppe aufbauen – und zum ersten Mal etwas durchatmen und längerfristige Forschungsfragen angehen.»
Vielversprechende Entdeckung
Das hat sie mit Erfolg getan, wie die Berufung zur Professorin in Tübingen zeigt. Ein eindrückliches Beispiel ist Junkers bisher vielversprechendste Entdeckung: ein PET-Tracer für ein Enzym namens CD73, den sie in Münster entwickelte und für den die Universität Tübingen inzwischen das Patent übernommen hat. CD73 wandelt vom Adenosintriphosphat (ATP) stammendes Adenosinmonophosphat (AMP) in Adenosin um. ATP ist der universelle Energieträger in Zellen, und damit eines der wichtigsten Moleküle überhaupt in lebenden Organismen.
«Doch ATP kann auch in den ausserzellulären Raum gelangen und ist dort ein Signalmolekül, welches das Immunsystem auf eine Gefahr oder eine Entzündung hinweist», erklärt Anna Junker. Adenosin ist genau das Gegenteil: Das Vorkommen dieses Moleküls bedeutet dem Körper: keine Gefahr, es müssen keine Immunzellen aktiviert werden! Extrazellulär wird ATP sehr schnell zu AMP abgebaut und durch CD73 zu Adenosin umgewandelt. Das nützen viele Krebszellen: «Alle soliden Tumore produzieren CD73 verstärkt», sagt Anna Junker. «Das führt dazu, dass sie sich richtiggehend in eine Adenosin-Wolke hüllen, die das Immunsystem des Körpers fernhält.»
Ihre Idee ist es, mit einem radioaktiv markierten CD73-Liganden die Abwehrstrategien von Krebszellen sichtbar zu machen – oder gar zu bekämpfen, wenn der Ligand den Umbau von AMP in Adenosin hemmt. Den ersten Punkt haben die Forschenden für Pankreas- und Brustkrebs bereits nachgewiesen. «Mit dem von uns entwickelten Tracer stellen wir diese Tumore im Tiermodell viel genauer dar als mit dem bisherigen Goldstandard», erzählt Junker.
Bis die Entwicklung ihren Weg in Patientinnen und Patienten findet, wird es noch ein Weilchen dauern. Doch Anna Junker ist optimistisch: «Die Infrastruktur hier in Tübingen ist hervorragend für die Translation vom Labor zur Patientenversorgung – es gibt nur wenige Standorte in Deutschland, die diesbezüglich derart gut aufgestellt sind.»
Tatsächlich: Ein kleiner Rundgang durch die Räumlichkeiten und Labore des WSIC lässt erahnen, welch breit gefächerte, hochkarätige und interdisziplinäre Forschung hier betrieben wird: Da gibt es Chemie- und Mikrobiologie-Labore. Es gibt Analytikgeräte für Reaktionskontrollen. Es gibt Labore, in denen die Tracer entstehen.
Die hochwertigsten und empfindlichsten Geräte befinden sich hinter verschlossenen Türen: teure, grosse Mikroskope und natürlich die PET-Scanner in den Imaging-Laboren. In ihnen wird untersucht, wie die Tracer sich in Geweben oder Versuchstieren verhalten. In diesen Räumen müssen selbst winzigste Verunreinigungen vermieden werden – es darf sie nur betreten, wer sich entsprechenden Reinigungsprozeduren unterzogen hat.

WSS-Wettbewerb für Doktorierende
Ein Forschungsprojekt eigenständig durchzuführen, ist anspruchsvoll. Um Doktorandinnen und Doktoranden früh an diese Aufgabe heranzuführen, organisierte das Werner Siemens Imaging Center (WSIC) mit der Unterstützung der Werner Siemens-Stiftung einen WSS-Förderwettbewerb für Promovierende. In der Klausurwoche des WSIC durften diese in kleinen Gruppen eigene Projektideen mitsamt Finanzierungsplan entwickeln und vorstellen.
Das Siegerteam – Daniel Bleher, Eden Laing und Laura Kübler – erhielt 50 000 Euro, um seine Idee weiterzuverfolgen. «Das ist toll, es gibt uns die Möglichkeit, einmal ein eigenes Projekt von Grund auf zu planen», freut sich Daniel Bleher.
Die Idee, mit der das Trio die Jury überzeugte, hat es in sich: Die jungen Forschenden wollen einen Tracer entwickeln, um Infektionen mit Porphyromonas gingivalis anzuzeigen.
P. gingivalis gilt als Schlüsselbakterium für die Entstehung von Zahnfleischentzündungen und chronischer Parodontitis. «In Deutschland haben 30 bis 40 Prozent aller Menschen mindestens einmal in ihrem Leben eine solche Infektion», erzählt Bleher. Ihre Auswirkungen gehen weit über den Mundraum und die Zahngesundheit hinaus. P. gingivalis steht laut Studien in Zusammenhang mit chronischen Entzündungen im Körper, mit schlechteren Prognosen bei Krebs und mit neurologischen Erkrankungen.
«Unsere Gruppe ergänzt sich sehr gut», erzählt Bleher. Er selber ist Doktorand in der Gruppe von Professorin Kristina Herfert und arbeitet an der Entwicklung von Tracern, die Strukturen im Gehirn von Menschen mit Parkinson oder Parkinson-ähnlichen Krankheiten nachweisen. Eden Laing doktoriert in der Gruppe von Privatdozent Nicolas Bézière auf dem Gebiet der Infektionsbildgebung. Und Laura Kübler, inzwischen Postdoktorandin in der Gruppe von Professor André Martins, hat Erfahrung in der Tumorbildgebung.
Das gemeinsame Projekt läuft nebenher. «Es erfordert zusätzliche Arbeit von uns», sagt Daniel Bleher. «Aber wenn man solch eine Chance bekommt, leistet man das natürlich gern.» Dem Nachwuchsteam ist es bereits gelungen, einige Verbindungen zu synthetisieren, die sich für die radioaktive Markierung eignen könnten. «Und wir kultivieren die Entzündungsbakterien, was nicht ganz einfach ist, weil sie nur im sauerstofffreien Milieu wachsen.» Ziel ist es, radioaktiv markierte Verbindungen in den Bakterien und danach in krankem Gewebe zu testen. «Vielleicht», hofft Daniel Bleher, «entsteht daraus eine erste Publikation und die Möglichkeit, die Idee im Rahmen eines grösseren Projekts weiterzuverfolgen.»
Die Idee des Doktorandinnen- und Doktoranden-Projekts findet der junge Forscher einzigartig. Er selber habe noch nirgendwo von einem solchen Wettbewerb gehört und bei den Promovierenden sei er auf enormen Zuspruch gestossen, erzählt er. «Es wäre toll, wenn so etwas wieder einmal möglich wäre.»
Datenmengen als Herausforderung
Eine wichtige Funktion kommt einem unscheinbaren Kämmerchen zu, das mit einigen besonders leistungsfähigen Computerstationen bestückt ist. Hier werden Experimente ausgewertet. Denn eines haben die bildgebenden Methoden gemein: Sie liefern enorme Datenmengen. Um ihrer Herr zu werden, braucht es spezielle Software, Speicherkarten und grosse Rechner. «Die Datenmengen sind eine der grössten Herausforderungen», sagt Bernd Pichler. «Denn das grosse Thema der Zukunft ist, dass wir nicht mehr nur multimodal arbeiten, sondern immer mehr auch multiskalar.»
Das bedeutet: Es geht nicht mehr nur darum, verschiedene Techniken wie PET und MRT oder CT gemeinsam zu nutzen, sondern mikroskopische mit makroskopischen Untersuchungen zu verschmelzen. Also beispielsweise den ganzen Körper auf Tumor-Ableger zu scannen – mit einer hohen räumlichen Auflösung. Die dabei anfallenden Daten sind nicht nur enorm gross, sondern auch komplex und unterschiedlich in ihren Formaten.
Wichtiger werden laut Pichlers Einschätzung auch Untersuchungen und Diagnosen, die Verbindungen zwischen verschiedenen Körperorganen betreffen. «Bei immunologischen Therapien sehen wir immer wieder, dass sie nur für einen Teil der Patientinnen und Patienten wirken», sagt Pichler. «Indem wir wichtige Immunorgane wie Milz oder Knochenmark untersuchen, können wir mithelfen, solche Zusammenhänge aufzudecken.»
Daneben wird es auch in Zukunft spannende Weiterentwicklungen einzelner bildgebender Methoden geben. Ein Beispiel, an dem die Tübinger Forschenden aktuell arbeiten, sind sogenannte Nanobodies – PET-Tracer auf der Basis von Antikörperfragmenten. Sie sind derart klein, dass sie selbst in die kleinsten, feinsten Gefässe vordringen und dort für die Bildgebung benutzt werden können.
«Wir arbeiten, als eine von sehr wenigen Forschungsgruppen weltweit, seit etwa fünf Jahren mit solchen Nanobodies», erzählt Bernd Pichler. Mit Erfolg: Das WSIC hat kürzlich mit «immunAdvice» sein erstes Spin-off gegründet, das mit solchen Nanobody-Tracern Immunzellen im Körper darstellen und damit den Erfolg von Immuntherapien beurteilen will.
Das Beispiel zeigt zweierlei: Den Bildgebungs-Expertinnen und -Experten in Tübingen gehen die Ideen nicht aus. Und ihre Forschung ist stets darauf ausgerichtet, dass sie möglichst rasch den Patientinnen und Patienten zugutekommt.
