Lebende Zellen beobachten
Noch immer gibt es Krankheiten, die sich schlecht erkennen und behandeln lassen. Um das zu ändern, entwickeln die Forschenden des Werner Siemens Imaging Centers in Tübingen neue bildgebende Verfahren, mit denen sich Gewebe und Moleküle genauer untersuchen lassen. Grosse Fortschritte erzielten sie jüngst in der Krebstherapie und bei der Früherkennung von Parkinson.
Krebserkrankungen sind in unseren Breitengraden für die meisten vorzeitigen Todesfälle verantwortlich. So ist Krebs in Deutschland und in der Schweiz bei Männern ab 45 Jahren und bei Frauen ab 25 Jahren die häufigste Todesursache. «Zwar lassen sich viele Krebsarten zunächst gut behandeln, aber sie kommen häufig nach einigen Jahren wieder zurück», sagt Bettina Weigelin, Gruppenleiterin am Werner Siemens Imaging Center (WSIC) in Tübingen. Sie sucht mit ihrem Team nach Verfahren, um Tumore besser charakterisieren und mit dem neuen Wissen die Krebstherapien verbessern zu können.
Dabei hilft den Tübinger Forschenden ihr neues Intravitalmikroskop – so werden Mikroskope bezeichnet, mit denen sich lebende Gewebe und sogar ganze Organismen untersuchen lassen. Das Intravitalmikroskop befindet sich im Experimentierbereich, den man nur in Einweg-Overalls betreten darf. Die Anlage, die dort seit Anfang 2021 aufgebaut ist, füllt einen ganzen Raum. Sie umfasst zusätzlich zum Mikroskop noch drei Hochenergie-Infrarotlaser. «Damit können wir nicht nur die Oberfläche einer Probe betrachten, sondern auch in sie hineinblicken», erklärt Weigelin.
Die Forschenden markieren zuvor die Zellen, die sie verfolgen wollen, etwa Tumor- und Immunzellen, mit fluoreszierenden Proteinen. Diese werden unter dem Mikroskop von den Lasern angeregt, sodass sie sichtbar werden – bis in eine Gewebetiefe von zwei Millimetern hinein. «Diese Tiefe erreichen nur eine Handvoll Intravitalmikroskope auf der Welt», so Weigelin.
In der Mäuselunge
Weigelin und ihr Team untersuchen hauptsächlich den Einfluss der Immuntherapie auf Tumore, und zwar an Mäusen. Dazu werden die Tiere schonend betäubt und unter das Mikroskop gelegt. Bisher konzentrierten sich die Forschenden auf Hautkrebs, doch mit dem neuen Gerät können sie auch Tumore analysieren, die tiefer im Körper liegen. So bereiten sie zurzeit die ersten Brustkrebsversuche vor.
Zudem haben sie angefangen, Metastasen zu untersuchen. «Bei vielen Krebsarten sterben Patienten heute nicht mehr an den Primärtumoren, sondern an Metastasen in Knochen oder inneren Organen», sagt Weigelin. Sie öffnet am Computer Bilder einer Mäuselunge, in deren Innerem mehrere runde Flecken leuchten: Metastasen. Die Aufnahmen stammen von einem weiteren Mikroskop, einem Lichtscheibenmikroskop, mit dem sich zwar keine lebenden Organismen, dafür aber ganze Organe in Schichten durchleuchten lassen. In der Vergrösserung wird sichtbar, wie die Immunzellen den Tumor bekämpfen. Am Rand der Geschwulst aber haben aktive, sich teilende Tumorzellen die Oberhand. «Häufig erkennen die Immunzellen zwar die Tumorzellen, schaffen es aber nicht, sie zu zerstören», sagt Weigelin. «Wir wollen herausfinden, warum das so ist, und darauf basierend neue Therapieformen entwickeln.»
Schläferzellen zerstören
Ein weiteres Phänomen in Tumorzellen untersucht die Gruppe von WSIC-Leiter Professor Bernd Pichler: die sogenannte Seneszenz. In diesem Zustand leben Zellen zwar weiter, teilen sich aber nicht mehr. Einige Krebsmedikamente nutzen diesen Mechanismus, um das Wachstum von Tumoren zu stoppen. Aber: «Man kann nie alle Zellen eines Tumors in die Seneszenz treiben», sagt Pichler. Zudem sondern seneszente Zellen Botenstoffe ab, die die übrigen Krebszellen zum Wachstum anregen. «Dann fangen bereits gebremste Tumore plötzlich wieder an zu wachsen», erklärt Pichler. «Um das zu verhindern, muss man die seneszenten Zellen zur richtigen Zeit mit Medikamenten zerstören.» Bei der Bestimmung dieses Zeitpunkts hilft ein neues Verfahren des Teams: Die Forschenden haben einen Seneszenz-Tracer entwickelt. Er besteht aus einem Molekül, das seneszente Zellen radioaktiv markiert, sodass diese mittels Positronen-Emissions-Tomografie (PET) sichtbar werden. Bereits haben die WSIC-Forschenden ihre Methode präklinisch getestet. Nun läuft Phase I einer klinischen Studie – es ist die weltweit erste klinische Studie eines Seneszenz-Tracers überhaupt.
Erste positive Ergebnisse kann die Methode schon verbuchen. In Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Tübingen hat Pichlers Team den Seneszenz-Tracer bei Menschen mit Glioblastomen eingesetzt, bei denen keine andere Therapie wirkte; diese Tumore im Gehirn gehören zu den gefährlichsten überhaupt. Die Patientinnen und Patienten, die abgestimmt auf die Bildgebung mit dem Seneszenz-Tracer behandelt wurden, lebten länger. «Einem 50-jährigen Patienten konnten wir mehrere zusätzliche Monate mit guter Lebensqualität ermöglichen», sagt Pichler.
Früherkennung von Parkinson
Das WSIC forscht auch zur Früherkennung von neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson. «Parkinson führt im Gehirn zur Ablagerung bestimmter Proteine, sogenannter Lewy bodies, und zwar schon lange bevor die ersten Symptome auftreten», sagt Gruppenleiterin Kristina Herfert. Sie hat mit ihrem Team nun den weltweit ersten Tracer entwickelt, der an diese Lewy bodies bindet und sie im PET-Scanner sichtbar macht. «Damit haben wir einen Messwert, der den Krankheitsverlauf aufzeigt», erklärt Herfert. So soll der neue Tracer künftig Ärztinnen und Ärzten überprüfen helfen, ob eine Therapie anschlägt – und vielleicht sogar die Früherkennung von Parkinson möglich machen. Nach vielversprechenden Ergebnissen aus präklinischen Tests mit Mäusen und menschlichem Gehirngewebe soll der Tracer schon im nächsten Jahr in einer klinischen Studie an Patientinnen und Patienten getestet werden.
Jüngst wurden die beiden WSIC-Gruppenleiterinnen Kristina Herfert und Bettina Weigelin auch zu Professorinnen der Universität Tübingen ernannt. Sie setzten sich gegen eine starke internationale Konkurrenz durch. «Das zeigt, wie stark unser Team ist, und wertet gleichzeitig das WSIC auf», sagt Pichler. «Das macht mich stolz.»
Text: Santina Russo
Fotos: Oliver Lang