Erst adlig, dann staatenlos

Wie kam es dazu, dass gerade die Töchter von Carl Siemens, Charlotte und Marie, die Werner Siemens-Stiftung gründeten? Um diese Frage zu beantworten, muss man in die Gründerjahre von Siemens zurückblenden.

Werner Siemens hatte zehn Geschwister. Zwei jüngere Brüder, William und Carl, unterstützten ihn wesentlich in seiner «Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske», die er 1847 mit dem Mechaniker Johann Georg Halske in Berlin gegründet hatte. Bruder William kümmerte sich um das Geschäft in England, Carl um jenes in Russland. In Russland baute Siemens & Halske im Auftrag der russischen Regierung das 9000 Kilometer lange Telegrafennetz auf und richtete das weltweit erste unterseeische Telegrafenkabel ein. Um den Bau zu überwachen, reiste Carl 1853 nach St. Petersburg. Er bewährte sich, war entscheidungsfreudig und kompetent. Das honorierte Werner, indem er die russische Zweigstelle 1855 in eine selbständige Niederlassung umwandelte, die Carl fortan mit eigenem Vermögen leitete – was sich als voller Erfolg erwies und dem Berliner Stammhaus einen steilen Aufschwung ermöglichte. 

Kriselndes Russland

Der Krimkrieg brachte eine erste Baisse. 1856 waren die russischen Finanzen desolat, so dass keine neuen Aufträge mehr an Siemens & Halske erfolgten. In dieser Zeit (1858) kam Carls Tochter Charlotte in St. Petersburg zur Welt. Die Wartungsverträge der Telegrafenlinien in Russland sicherten dem Familienunternehmen zwar für zwölf Jahre kontinuierliche Einnahmen, doch damit begnügten sich Carl und Werner Siemens nicht. Sie suchten nach neuen Investitionsmöglichkeiten und kauften 1864 bei Kedabeg im Kaukasus eine Kupfermine. 

Kupfermine im Kaukasus

Weil das russische Geschäft kriselte – und auch wegen der angeschlagenen Gesundheit seiner Frau Marie –, verliess Carl St. Petersburg und siedelte mit der Familie nach Tiflis (Georgien). Von dort aus übernahm er die Leitung des Kupferbergwerks Kedabeg. Nach Anfangsschwierigkeiten entwickelte es sich zu einem rentablen Betrieb. 

London und das Seekabelgeschäft

Als Carls geliebte Frau Marie 1869 mit nur gerade 34 Jahren starb, zog Carl nach London weiter, wo er sich die nächsten zehn Jahre im Geschäft seines Bruders William engagierte. Die englische Niederlassung hatte sich auf das risikoreiche Seekabelgeschäft verlegt. Carl übernahm die Herkulesaufgabe, eine durchgehende Telegrafenlinie zwischen London und Kalkutta zu erstellen, was er innerhalb von zwei Jahren schaffte. Die sogenannte Indolinie revolutionierte die Kommunikation zwischen Europa und Indien; sie war ein riesiger Erfolg für Carl und katapultierte Siemens & Halske ganz nach oben, in die erste Liga der internationalen Telegrafenunternehmen.

Transatlantikkabel

1874 übernahm Carl das wichtigste Projekt, die Verlegung des Transatlantikkabels. Trotz Schlechtwetterperioden, Sabotage durch die Konkurrenz und Falschmeldungen schlossen Carl und William das kapitalintensive und risikoreiche Projekt 1875 erfolgreich ab. Diese Grosserfolge zogen weitere Aufträge nach sich, so dass Siemens Ende des 19. Jahrhunderts neun der insgesamt sechzehn Transatlantikkabel verlegt hatte und Geschäfte in Asien, Afrika, Australien, Südamerika, China und Japan tätigte. 

Auszeichnung des Zaren

Trotz enormem Erfolg fühlte sich Carl in London, wo er im Schatten seines älteren Bruders William stand, mit den Jahren nicht mehr wohl und kehrte 1881 mit seinen beiden Töchtern nach St. Petersburg zurück. Er belebte das russische Siemens-Geschäft mit neuen Produkten: dem Bau elektrisch betriebener Bahnen, mit städtischen Beleuchtungsanlagen, Telegrafenapparaten und -kabeln und Eisenbahnsignalanlagen. Für sein unternehmerisches Engagement in Russland wurde Carl im Jahr 1895 von Zar Nikolaus II. in den erblichen Adelsstand erhoben. 

Umwandlung in eine AG

Werner beharrte ein Leben lang auf der Form eines Familienunternehmens, während Carl bei der Konkurrenz erkannte, welche finanziellen Möglichkeiten eine Aktiengesellschaft mit sich brachte. Trotzdem setzte sich Carl nicht gegen den geschätzten Bruder und Firmengründer durch und wartete bis nach dem Tod Werners, bis er das Unternehmen an die Börse brachte. 1897 wurde Siemens & Halske eine AG, mit einer Marktkapitalisierung von 35 Millionen Reichsmark. Alle Aktien blieben vorerst im Familienbesitz.

Carls Idee einer Familienstiftung

Die grosse Verbundenheit mit der Familie zeigte sich auch in Carls Idee eines Fonds, der zum Wohle der Siemens- Nachkommen eingerichtet werden sollte – woraus sich schlussendlich die Werner Siemens-Stiftung entwickelte. Die Idee findet man in einem Brief von Carl aus dem Jahr 1900 formuliert. Carl hatte einen Sohn, der ebenfalls Werner hiess und mit 44 Jahren starb. In seinem grossen Schmerz über den Verlust schrieb Carl an einen seiner Neffen: «Meinen Plan, einen Fonds zum Besten meiner und meiner Geschwister Nachkommen zu stiften, habe ich meinen Töchtern mitgeteilt und sie sind mit Feuer und Flamme dafür.»

Charlotte von Buxhoeveden

Besagte Töchter von Carl waren Charlotte und Marie. Beide verbrachten ihre Kindheit in Russland, von wo aus die Familie zahlreiche Reisen unternahm. Auf einer dieser Reisen lernte Charlotte ihren Mann kennen, Alexander Peter Eduard Baron von Buxhoeveden, einen Adligen aus dem Baltikum, der hoch angesehen war und im Dienste des Zaren stand. Sie heirateten 1884 in St. Petersburg. Ein paar Jahre später erwarb Charlottes Vater Carl den vierzig Kilometer südlich von St. Petersburg liegenden traditionsreichen Gutshof Gostilitzy, der zum russischen Familienlandsitz wurde. 

Erster Weltkrieg 

Carl Siemens starb 1906. Er erlebte nicht mehr, wie mit dem Ersten Weltkrieg das russische Zarenreich zerbrach, die Kommunisten die Macht übernahmen und die Rote Armee die vormals herrschende Klasse verfolgte. Seine Töchter hingegen traf der Systemwechsel in voller Härte. Charlottes Mann Alexander wurde 1919 in Estland von den Bolschewisten ermordet, sie selbst wurde staatenlos und musste ihr Hab und Gut zurücklassen und mit den Kindern aus Russland fliehen.

Verlorene Kupferwerke

Auch die vom Vater geerbten Kupferwerke, die Charlotte zusammen mit ihrer Schwester Marie während Jahren vergeblich in Betrieb zu nehmen versuchte, verlor sie, da die Verbindungswege ab 1918 durch die neue sowjetisch-türkische Grenze blockiert waren. Ein Ausbau der Verkehrswege, die den Weiterbetrieb des Kupferwerks in der Türkei ermöglicht hätten, lohnte sich nicht, und auch die mehrjährigen Verhandlungen fruchteten nicht. Ernüchtert mussten Charlotte und Marie schliesslich aufgeben. Das Erbe und die früher getätigten Investitionen waren nicht zu retten.

Staatenlose Adlige

Nach ihrer Flucht aus Russland lebte Charlotte mit den fünf Kindern abwechselnd in Deutschland und Italien und reiste schliesslich 1922 mit ihrem Sohn Carl Otto bei Kreuzlingen in die Schweiz ein. Als die eidgenössischen Behörden eine Niederlassung der von Buxhoeveden aber ablehnten, versuchte es die Baronin in Liechtenstein. 1924 war es soweit: Der Fürst von Liechtenstein gewährte ihr die Staatsbürgerschaft – nicht ganz uneigennützig: Liechtensteins Wirtschaft lag nach dem Ersten Weltkrieg danieder, so dass das Fürstentum mit Hilfe von Finanzeinbürgerungen zu Devisen kommen wollte. Lange konnte Charlotte ihre neue Staatszugehörigkeit nicht geniessen. Sie starb zwei Jahre später mit 66 Jahren.

Marie von Graevenitz

Die zweite Gründerin der Werner Siemens-Stiftung, Charlottes jüngere Schwester Marie, heiratete mit 24 Jahren den Diplomaten Baron Georg Ludwig von Graevenitz, der aus altmärkischem Uradel stammte, der seit eineinhalb Jahrhunderten auch in Russland ansässig war. Georg Ludwig von Graevenitz stand im diplomatischen Dienste als – wie es damals gespreizt hiess – «Kaiserlich russischer wirklicher Staatsrat und Ministerresident im Amte eines Stallmeisters des Kaiserlichen Hofes». Nach der Hochzeit lebte Marie wie ihr Mann viele Jahre in St. Petersburg am Zarenhof, wo sie als Hofdame wirkte und fünf ihrer sechs Kinder zur Welt brachte. Mit 29 Jahren erbte sie den Gutshof Gostilitzy von ihrem Vater und residierte fortan mit ihrer Familie auf dem herrschaftlichen Anwesen – bis zur Russischen Revolution. 

Zerstörtes Gut Gostilitzy

Nach der Oktober-Revolution musste auch die Familie von Graevenitz aus Russland fliehen und ihren Besitz zurücklassen. Auf ihrem Gutshof Gostilitzy wurde hart gekämpft. Zweimal stiegen die Truppen der kaiserlich-russischen Armee in Gostilitzy ab und fügten dem Anwesen grossen Schaden zu. Als die Kommunisten siegten, wurde das Gut zu einem staatlichen landwirtschaftlichen Betrieb erklärt. 

Stiftungsgründung 1923

Die eigene schwierige Situation mag Marie und Charlotte an die Idee ihres Vaters erinnert haben, eine Stiftung zum Wohle der Nachkommen einzurichten. 23 Jahre nachdem er ihnen davon erzählt hatte, gründeten sie 1923 in Schaffhausen die Werner-Stiftung. Deren Stiftungszweck war viele Jahre lang die finanzielle Unterstützung von Angehörigen der weitverzweigten Siemens-Familie, die in Not geraten waren. Aus der Werner-Stiftung entwickelte sich schliesslich die heutige Werner Siemens-Stiftung, die innovative Projekte und die Nachwuchsförderung in Technik und Naturwissenschaften unterstützt.

Text: Brigitt Blöchlinger
Fotos und Quellenmaterial: Siemens Historical Institute


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