Zustifterinnen mit Weitblick

Das Vermögen der Werner Siemens-Stiftung beruht auf den Zuwendungen von Mitgliedern der Familie von Siemens: Nach der Gründung der Stiftung 1923 durch Charlotte und Marie, den Töchtern von Carl von Siemens, steuerten deren Cousinen Anna und Hertha sowie später Eleonore «Nora» Füssli namhafte Beträge bei. Soviel ist gewiss. Doch von den Zustifterinnen selbst weiss man nur wenig. Das ändert sich nun.

Die Werner Siemens-Stiftung hat den Auftrag, das Leben und Wirken ihrer Stifterinnen zu recherchieren, an zwei kundige Autorinnen vergeben: Béatrice Busjan und Yvonne Gross. Béatrice Busjan ist Historikerin und Kunsthistorikerin. Yvonne Gross ist Fachangestellte für Medien (Bibliothek/Archiv) sowie Autorin und hat mit Ludwig Scheidegger, dem früheren Direktor von Siemens Schweiz, die Biografie zu Eleonore «Nora» Füssli geschrieben und 2018 in Buchform veröffentlicht. Da Nora Füssli (1874–1941) die Stiftung als Letzte alimentierte, werden wir sie der Chronologie zuliebe im «Report» 2020 vorstellen. Hier werfen wir nun einen Blick auf das Leben von Anna (1858–1939) und Hertha (1870–1939). Die beiden Töchter von Werner von Siemens waren die ersten Zustifterinnen. Ihr Leben wird derzeit von Yvonne Gross und Béatrice Busjan aufgearbeitet. Ein Werkstattgespräch.

Béatrice Busjan und Yvonne Gross, können Sie kurz skizzieren, wie es dazu kam, dass Anna und Hertha wesentliche Mittel der Werner Siemens-Stiftung zuführten?

Yvonne Gross: Anna und Hertha waren mit ihren Cousinen Charlotte und Marie, die 1923 die Werner Siemens-Stiftung gründeten, sehr vertraut. Charlotte und Marie hatten nach ihrer traumatischen Vertreibung aus dem nachrevolutionären Russland das unbedingte Bedürfnis, für ihre Nachfahren Vorsorge zu treffen. Dieser Wunsch trieb auch Anna und Hertha an.

Béatrice Busjan: Anna und Hertha hatten ebenfalls einen grossen Familiensinn, blieben jedoch beide kinderlos. Daher richtete sich ihre familiäre Fürsorge insbesondere auf ihre Nichten und Neffen. Sie erlebten in den 1920er-Jahren die Inflation in Deutschland und machten sich – da sie beide früh verwitwet waren – natürlich Gedanken über ihre eigene finanzielle Absicherung und über eine sinnvolle Verwendung ihres Erbes. Das ist ganz kurz der historische Hintergrund ihrer Zustiftungen in die Werner Siemens-Stiftung.
 

Was wussten Sie über Anna und Hertha, als Sie Anfang 2018 mit den Nachforschungen begannen?

Yvonne Gross: Anna ist die älteste Tochter von Werner von Siemens, Hertha die jüngste. Anna hat den Papierfabrikanten Richard Zanders in Bergisch Gladbach geheiratet; Hertha den Chemiker Carl Dietrich Harries in Berlin. Beide Ehen blieben kinderlos. Aus meinen früheren Recherchen kannte ich auch schon Herthas grosses Interesse für die Kunst.

Béatrice Busjan: Annas Name wurde vor allem mit der Gronauerwald-Siedlung in Bergisch Gladbach verbunden, die sie mit ihrem Mann für Angestellte und Arbeiter ihrer Papierfabrik Zanders aufgebaut und nach seinem Tod weiterentwickelt hatte. Bei Hertha wurde immer ihr soziales Engagement im Siemens-Konzern herausgestellt. Aber die Persönlichkeiten der beiden konnte man nicht richtig fassen, da sich bisher niemand intensiv mit ihnen beschäftigt hat.

Welche Entdeckungen zu Anna und Hertha haben Sie am meisten überrascht?

Béatrice Busjan: Herthas enge Verbindung zur künstlerischen und wissenschaftlichen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts und ihr herausragendes Urteilsvermögen: Bei ihr gingen nicht nur künftige Nobelpreisträger ein und aus, sondern sie erkannte zum Beispiel auch die künstlerische Qualität von Werken van Goghs und Bruno Tauts – Jahre bevor diese allgemein anerkannt waren.

Yvonne Gross: Anna wird von allen Zeitgenossen als sehr durchsetzungsfähig beschrieben. Wir haben jetzt herausgefunden, dass sie sich anfangs von einem erfahrenen Politiker coachen liess, der ihr entscheidende Hinweise gab. Und ein Blick in ihren Kalender aus ihrem Todesjahr zeigt, wie viel sie noch vorhatte!

Béatrice Busjan: Es ist ausserdem sehr beeindruckend, wie Anna und Hertha mit persönlichen Schicksalsschlägen und gesellschaftlichen Umbrüchen umgingen und dabei stets zu Neuanfängen bereit waren.
 

War es schwierig, an die Informationen zu kommen?

Busjan: Schaut man in die vorhandene Forschungsliteratur und in zeitgenössische Publikationen wie Zeitungen, dann merkt man rasch, dass die beiden Frauen oft hinter ihren Ehemännern «verschwinden». Damit ist gemeint, dass Aktivitäten, die vielleicht von Anna oder Hertha ausgingen, ihren Ehemännern zugeschrieben wurden. Das ist natürlich typisch für den Zeitraum, in dem wir uns historisch bewegen: in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Wir mussten also alles, was zeitgenössisch veröffentlicht wurde, «gegen den Strich» lesen und immer prüfen, wer wohl tatsächlich die handelnde Person war. Ausserdem war von Anfang an klar, dass das Sichten von Quellenmaterial für eine fundierte Erzählung der Biografien unverzichtbar ist. Also: Geburts- und Todes  urkunden, Taufscheine, Kauf- und Gesellschafterverträge, Akten und Korrespondenzen privater und geschäftlicher Art.

Yvonne Gross: Solche Unterlagen befinden sich in öffentlichen Archiven oder in Familienbesitz. Nicht immer ist das vorhandene Material bereits erschlossen, manches Mal auch noch gar nicht verzeichnet, wie zum Beispiel die Korrespondenz von Anna mit ihrem Patenkind Werner Ferdinand von Siemens oder mit ihrer Tante Anne Gordon. So waren wir manches Mal die Ersten, die nach achtzig bis hundert Jahren wieder in die Unterlagen schauten. In diesen Fällen heisst es erst einmal: viel Handschriftliches sortieren und entziffern.
 

Wo fanden Sie die meisten Informationen zu Anna und Hertha?

Yvonne Gross: Das umfangreichste Material stammt aus dem Siemens Historical Institute. Dort fanden sich viel mehr Unterlagen zu den beiden Frauen, als zu Beginn unserer Arbeit bekannt war. Zur Klärung von einzelnen Fragen haben wir eine Vielzahl weiterer Archive kontaktiert, wie zum Beispiel die Universitätsarchive in Berlin und Jena, die Stadtarchive von Bergisch Gladbach und Köln oder die Landesarchive von Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Für Hertha waren Anfragen in Italien erforderlich, und zu Anna gab es in Amerika einiges zu entdecken. Überdies spielten die Nachfahren der Familien von Siemens, Zanders, Harries und Eckener eine wichtige Rolle bei der Recherche.

Béatrice Busjan: Für die ersten Lebensjahrzehnte von Anna und Hertha sind die Briefe, die ihr Vater Werner von Siemens mit seinen Brüdern, insbesondere mit Carl von Siemens wechselte, eine unglaublich berührende Quelle. Werner und Carl von Siemens führten nicht nur gemeinsam ein internationales Unternehmen, sondern waren auch beide sehr fürsorgliche Väter, die über das  Wohlergehen ihrer Kinder in ständigem Kontakt waren. Nach dem Tod von Werner von Siemens 1892 brach das natürlich ab. Aber für die Folgezeit waren die Briefe, die Anna und Hertha an ihre Verwandten richteten, sehr ergiebig, vor allem aber auch die Briefe, die sie sich gegenseitig schrieben, denn hier waren die beiden «unter sich» und erzählten sich manches, was sonst nicht ausgesprochen wurde. Hertha schmuggelte zum Beispiel Champagner in die Klinik, in der sie zur Behandlung war, und Anna dachte darüber nach, für ihr Patenkind Werner Ferdinand ihr ganzes Leben auf den Kopf zu stellen.

Interview: Brigitt Blöchlinger
Bilder: Siemens Historical Institute, Berlin; Yvonn Gross, Berlin
 

Publikationen

Die Biografien von Anna von Siemens und Hertha von Siemens werden Ende 2020 im Thomas Helms Verlag, Schwerin, erscheinen, herausgegeben von der Werner Siemens-Stiftung.

Buchautorinnen

Béatrice Busjan, M. A., Historikerin und Kunsthistorikerin, Leiterin der Agentur Geschichte + Kunst, Hamburg
Yvonne Gross, Recherche, Fachangestellte für Medien und Informationsdienste, Berlin

Buch zu Eleonore «Nora» Füssli

Yvonne Gross und Ludwig Scheidegger: «Nora Füssli», herausgegeben von der Werner Siemens-Stiftung,
Thomas Helms Verlag, Schwerin, 2018


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