Materialwissenschaftler Francesco Stellacci mit einer medizinischen Fachkraft.
Die Idee zu einem «Antivirotikum» stammt von Materialwissenschaftler Francesco Stellacci (rechts). Für die Realisierung hat er sich mit Fachkräften aus der Medizin zusammengetan.

Gibt es bald ein «Antivirotikum»?

Francesco Stellacci möchte der Medizin einen lang gehegten Wunsch erfüllen: ein Medikament, das gegen verschiedene Viren wirkt – inklusive des neuartigen Coronavirus. Dank der Werner Siemens-Stiftung kommt der Professor an der École polytechnique fédérale de Lausanne seinem Traum von einem «Antivirotikum» einen grossen Schritt näher. 

Das neuartige Coronavirus hat die Menschheit 2020 kalt erwischt. Kein Wunder, laufen die Bestrebungen auf Hochtouren, wirksame Medikamente und Impfstoffe dagegen zu finden. Wenn es gelingt, wird die Welt wieder anders aussehen. Noch schöner wäre es, einem alten Menschheitstraum näher zu kommen und über ein Medikament zu verfügen, das nicht nur gegen ein einziges Virus, sondern gegen viele verschiedene Viren wirksam ist. Mehrere Tausend Virenarten besiedeln gemäss Schätzungen unseren Planeten. Einige sorgen für viel Schaden und Leid bei Menschen, Tieren und Pflanzen. Die Humanmedizin kennt weltweit rund fünfzig virale Infektionskrankheiten mit Millionen von Todesfällen und Erkrankungen jährlich. Gegen einige dieser viralen Krankheiten gibt es Impfungen – etwa gegen Pocken, Röteln, Masern und Hepatitis A und B. Gegen andere Viruskrankheiten wurden mehr oder weniger wirksame Medikamente entwickelt, so zur Behandlung von Herpes, Hepatitis B und HIV. Die Liste mag nicht abschliessend sein, ist aber dennoch von bescheidenem Umfang. 

Viren schädigen, Zellen schonen

Warum ist es so anspruchsvoll, antivirale Medikamente zu entwickeln? Weil Viren keinen eigenen Stoffwechsel haben. Sie vermehren sich, indem sie in die Zellen von Pflanzen, Tieren und Menschen eindringen. Wirkstoffe, die Viren verlässlich zerstören, gibt es zwar, zum Beispiel in Form von Desinfektionsmitteln. Aber was ausserhalb des Körpers etwa auf Türgriffen oder auf der Haut funktioniert, kann im Körperinnern verheerende Schäden an den Zellen anrichten. Das ist auch das Problem der heute verfügbaren antiviralen Medikamente: Sie funktionieren meist dadurch, dass sie die Vermehrung der Viren in unseren Zellen blockieren, was aber auch den Zellen selbst schaden und zu gravierenden Nebenwirkungen führen kann. Viel sicherer ist es, zu verhindern, dass Viren überhaupt in menschliche Zellen eindringen. Auch solche Medikamente gibt es. Allerdings zerstören sie die Viren nicht vollends.

Wirkungsvolle Täuschung

Einen Ansatz zur vollständigen Zerstörung von Viren verfolgt Francesco Stellacci, Professor für Materialwissenschaften und Leiter des Supramolecular Nano-Materials and Interfaces Laboratory am Institute of Materials der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL). Seit zehn Jahren arbeitet er daran, einen breit wirksamen Wirkstoff gegen Viren zu entwickeln. Zuerst forschte er dazu mit Gold-Nanopartikeln, jetzt mit modifizierten Cyclodextrinen (Zuckermolekülen). Diese werden bereits heute als Nahrungsmittelzusätze verwendet; auch werden sie als mögliche Medikamente etwa gegen Atherosklerose getestet. Nun schwebt Stellacci ein grosser Wurf vor, wie er vor bald hundert Jahren dem schottischen Bakteriologen Alexander Fleming gelungen ist. Dieser entdeckte mit dem Penicillin ein Antibiotikum, das gegen eine Vielzahl von Bakterien wirkt. Analog dazu will Francesco Stellacci ein «Antivirotikum» entwickeln und dazu Cyclodextrine gegen Viren einsetzen. Dazu modifiziert er diese mit Alkylgruppen – Ketten von Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen–, an deren Ende sich Sulfonsäuregruppen befinden. Werden Cyclodextrine so verändert, sind sie zu einem Täuschungsmanöver fähig. Sie gaukeln den Viren vor, Erkennungsmoleküle auf der Oberfläche menschlicher Zellen zu sein. Das zieht die Viren an und bindet sie an die «Attrappen». 

Binden und sprengen

Die Idee, Viren so zu täuschen, existiert seit den 1930er-Jahren. Das allein reicht aber nicht aus, um Viren zu zerstören. Stellacci hat den Ansatz deshalb um einen äusserst wirkungsvollen zweiten Teil ergänzt: Die modifizierten Cyclodextrine binden sich mit ihren langen «Fangarmen» so an die Viren, dass ein starker mechanischer Druck auf deren Hüllen entsteht. Das Resultat: Die Virenhüllen werden gesprengt. Die Viren sind damit im Gegensatz zu bisherigen antiviralen Medikamenten nicht nur in ihrer Vermehrung blockiert, sondern effektiv und irreversibel zerstört. Ihre Überreste werden vom Immunsystem entsorgt. Der Clou: Ein Schaden an menschlichen Zellen ist ausgeschlossen, weil das ganze Geschehen ausserhalb der Zellen stattfindet. Viren ausserhalb der Zellen angreifen und dabei mit dem Druck auf die Viren ein mechanisches und nicht ein chemisches Prinzip anwenden: Mit diesem einzigartigen Ansatz hofft Francesco Stellacci, möglichst viele Virenarten bekämpfen zu können. Dabei gelte es aber realistisch zu bleiben: «So, wie es kein Antibiotikum gibt, das alle Bakterienarten abzutöten vermag, wird es wahrscheinlich nie gelingen, eine einzige Substanz zu finden, die gegen alle Viren wirkt. Dazu sind Viren einfach zu unterschiedlich.» So binden sich zum Beispiel nicht alle Viren an diese speziellen Zuckermoleküle. 

Francesco Stellacci schätzt, dass sein Wirkstoff etwa gegen 15 der gravierendsten virusbedingten Krankheiten beim Menschen wirkt. So wie Penicillin bisher die erste Wahl bei einer bakteriellen Infektion ist, möchte Stellacci auch seinen Wirkstoff als erste Wahl gegen Virusinfektionen verstanden wissen. Doch ähnlich wie bei Antibiotika werden die Menschen mit einem «Antivirotikum» genauso sorgsam umgehen müssen. Denn auch Viren entwickeln Resistenzen gegen Medikamente. Stellacci geht aber davon aus, dass diese Gefahr bei seinem Ansatz geringer ist als bei herkömmlichen antiviralen Medikamenten – weil sich der Angriff auf die Viren ausserhalb der Zellen abspielt.

Wie sich Viren im Menschen vermehren

Wie Francesco Stellacci Viren unschädlich machen will

Atemwegsinfektionen im Fokus

Einen speziellen Fokus seiner Forschung hat Stellacci nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie auf das neuartige Coronavirus und andere respiratorische Viren gelegt – also auf Viren, die Erkrankungen der Atemwege auslösen oder über den Luftweg übertragen werden. «Es sind vor allem diese Virenarten, die ein hohes Risiko beinhalten, Pandemien auszulösen», sagt Stellacci. In seiner Forschung arbeitet er unter anderem mit Spezialistinnen und Spezialisten der Virologie und Infektiologie an der Universität Genf und an den Genfer Universitätsspitälern (abgekürzt HUG: Hôpitaux universitaires de Genève) zusammen. In Laborversuchen hat der Ansatz bereits funktioniert. Menschliche Zellen liessen sich nach der Zugabe der Zuckermoleküle nicht mehr mit diversen Virenarten infizieren – auch nicht mit dem neuartigen Coronavirus. Auch Tests mit Lungengewebe, das im Labor gezüchtet wurde, verliefen erfolgreich. Und im Tierversuch mit Mäusen funktionierte der Ansatz mit Grippeviren und Herpesviren. Besonders erfreulich: Erste Versuche zeigen, dass das Prinzip sogar bei Viren funktioniert, die gar keine Hülle besitzen, sondern nur ein sogenanntes Kapsid – eine Proteinverpackung des Virusgenoms. Dies erweitert den Kreis der Virenarten, die angegriffen werden können. 

Start der klinischen Versuche

Die erfolgreichen Resultate haben auch die Werner Siemens-Stiftung überzeugt. Sie fördert die nächste Phase der Wirkstoffentwicklung. So kann Francesco Stellacci von Frühling 2020 bis Ende März 2021 weitere toxikologische Studien durchführen und die Produktion des Wirkstoffs mit externen Partnern vorbereiten. Vor allem aber sollen die Resultate der ersten klinischen Studie bis Frühling 2021 vorliegen. In der Studie wird die Sicherheit des Wirkstoffes erstmals an den HUG am Menschen getestet. Dabei kommen verschiedene Versionen des Wirkstoffes zum Einsatz – auf alle sind bereits Patente angemeldet. Sind die Resultate positiv, können die weiteren klinischen Studien folgen, um die Wirksamkeit des Ansatzes am Menschen zu prüfen. «Wenn alles gut geht und die weitere Finanzierung gesichert werden kann, sollte unser Wirkstoff bis spätestens 2025 als Medikament verfügbar sein. Vermutlich wird es die Form eines Sprays haben, den man sich in den Rachenraum sprüht», sagt Stellacci. Ein «Antivirotikum» in Sprayform – was für eine elegante Lösung für ein gravierendes weltweites Problem, das mit dem neuartigen Coronavirus noch drängender geworden ist. 

Text: Adrian Ritter
Fotos: Felix Wey