«Unser Virenzentrum wird sich weltweit vernetzen»
Die nächste Pandemie kommt bestimmt, ist Francesco Stellacci überzeugt. Wollen wir gewappnet sein, ist internationale Kooperation und innovative Forschung angesagt – etwa im neu zu gründenden «Werner Siemens Foundation Center for Antivirals Research», dessen Etablierung die Werner Siemens-Stiftung finanziert.
Professor Stellacci, wie haben Sie das Pandemiejahr 2021 erlebt?
Francesco Stellacci: Es war für uns alle ein anstrengendes Jahr. Positiv ist, dass wir heute so viel über das Sars-CoV-2-Virus wissen wie sonst wohl über kein anderes Virus. Und das in Rekordzeit: Im Dezember 2019 trat das Virus erstmals auf, im Frühling 2020 war sein Genom sequenziert und die Antikörper dagegen waren identifiziert. Es hätte wohl niemand gedacht, dass die weltweite Forschungsgemeinschaft zu einer solch schnellen, gemeinsamen Aktion fähig ist. Ich gehe davon aus, dass es bei neuartigen Viren in Zukunft sogar noch schneller als bei Covid-19 gehen wird. Denn jetzt haben wir die Erfahrung und eine Infrastruktur, die vor der Pandemie nicht zur Verfügung stand.
Impfstoffe gegen Sars-CoV-2 liegen vor. Wie wichtig ist die Suche nach Medikamenten jetzt noch?
Eine Impfung ist immer das oberste Ziel bei Viruskrankheiten. Aber vergessen wir nicht: Es wird nie so sein, dass die Menschen auf der ganzen Welt gleich schnell geimpft sind. In Afrika etwa wird es noch lange dauern oder vielleicht nie der Fall sein, dass alle geimpft sind, die dies wünschen. Auch das Testen von Impfstoffen an Menschen ist ein Risiko, das entspannter eingegangen werden kann, wenn Medikamente gegen die Viruserkrankung vorliegen. Medikamente geben uns die Zeit, einen Impfstoff zu entwickeln. Wobei es noch immer viele Viren gibt, wie etwa das HIV, gegen die bis heute kein Impfstoff verfügbar ist. Für das Coronavirus haben wir Impfstoffe mit einem unglaublich hohen Wirkungsgrad. Das ist längst nicht bei jeder Impfung der Fall. Was, wenn die nächste Pandemie von einem Virus ausgeht, das sich so effektiv gegen eine Impfung wehren kann wie das HIV? Aus all diesen Gründen werden antivirale Medikamente immer wichtig sein.
Müssen wir denn mit weiteren Pandemien rechnen?
Allerdings. Seit den 1970er-Jahren beschäftigen uns rund alle vier Jahre neue Viren in der Form von Pandemien oder Epidemien – vom HIV bis zum Coronavirus. Die Zunahme der Weltbevölkerung und die Globalisierung sorgen dafür, dass dies in Zukunft sogar noch häufiger geschehen wird. Es gibt viele Viren, die dafür infrage kommen. Die grösste Gefahr geht von solchen aus, die Krankheiten der Atemwege auslösen. Da sie über die Luft übertragen werden, ist der Schutz vor ihnen am schwierigsten. Meiner Einschätzung nach ist es am wahrscheinlichsten, dass Grippeviren eine nächste Pandemie auslösen werden, weil sie jährlich in leicht mutierter Form auftreten. Es könnte auch sein, dass uns das neue Coronavirus in ähnlicher Weise erhalten bleibt.
Wie können wir uns gegen Pandemien wappnen?
Es ist dringend nötig, sich baldmöglichst in Ruhe auf globaler Ebene zusammenzusetzen und das zukünftige Vorgehen zu definieren: Welches ist das richtige Vorgehen, wenn sich eine Pandemie abzeichnet? Wie sieht die Arbeitsteilung aus? Wir müssen in die Zukunft schauen und besser vorhersehen, welche Bedrohungen auf uns zukommen könnten. Und wir brauchen mehr Forschung zu Viren. Bis heute gibt es nur wenige spezifische antivirale Medikamente, und die Entwicklungszeit für neue Wirkstoffe ist sehr lang. Das muss sich ändern.
An der EPFL soll ein Zentrum für antivirale Forschung entstehen. Wie wird das aussehen?
Im Moment sind wir dabei, das neue Zentrum zu definieren. Wir dürfen bis 2023 eine Vision und ein Konzept formulieren, über welche die Werner Siemens-Stiftung dann konkret befinden kann. Die Motivation ist klar: Von Viren ausgelöste Erkrankungen sind in der Geschichte der Medizin zu lange vernachlässigt worden. Das spiegelt sich auch darin wider, dass es in Europa beispielsweise sehr viele Krebsforschungszentren gibt, aber nur wenige Zentren für Virenforschung. Diese Lücke will das neue Zentrum an der EPFL schliessen helfen. Wir wollen zu einem der bedeutendsten Virenforschungszentren in Europa werden. Unser Zentrum wird sich weltweit vernetzen und sein Wissen austauschen. Damit wir den Kampf gegen zukünftige Pandemien gewinnen und gefährliche Viruserkrankungen behandeln können.
Warum ist Lausanne der richtige Ort dafür?
Bereits haben mehrere Forschungsgruppen der EPFL ihr Interesse bekundet, an einem solchen Zentrum mitzuarbeiten. Es sind Gruppen, die bereits in der Virenforschung tätig sind, aber auch solche, die mit neuen Ideen in diesen Bereich einsteigen möchten. Im neuen Zentrum würden also neben dem Ansatz meiner Gruppe auch andere Strategien gegen Viren verfolgt werden. Das ist grossartig, denn wir brauchen die Diversität von Ideen, um die Erfolgschancen zu erhöhen. Das Ziel, Viren zu bekämpfen, ist zu wichtig, um nur auf eine Karte zu setzen. Und wenn es uns gelingt, neben der Förderung durch die Werner Siemens-Stiftung noch zusätzliche Mittel einzuwerben, können wir nicht nur antivirale Medikamente entwickeln, sondern zum Beispiel auch zu Impfstoffen gegen Viruskrankheiten forschen.
Wenn alles klappt, wird der Aufbau des Zentrums also 2023 beginnen?
Ja – wobei wir bereits mit der im Frühling 2021 erhaltenen zweiten Förderung der Werner Siemens-Stiftung beginnen konnten, Geräte für die Virenforschung anzuschaffen und für die gesamte EPFL verfügbar zu machen. Dies erlaubt es, die Forschungsgruppen zusammenzubringen. Und diese haben die Möglichkeit, sofort mit dem Testen neuer Ideen für antivirale Wirkstoffe anzufangen. Im besten Fall werden wir also bereits neue, Erfolg versprechende Ansätze der Virenbekämpfung entwickelt haben, wenn wir 2023 offiziell das «Werner Siemens Foundation Center for Antivirals Research» eröffnen.