Chancenlose Viren
Professor Francesco Stellacci plant einen zweifachen Angriff auf Viren aller Art: Sollten sie seinem neu entwickelten Breitbandmedikament entgehen, wird ihnen sein massgeschneidertes Antivirotikum den Garaus machen. Dank der Werner Siemens-Stiftung kann Stellacci für die Umsetzung seiner innovativen Strategie ein neues Forschungszentrum an der École polytechnique fédérale de Lausanne aufbauen.
Die Covid-19-Pandemie hat unser Leben verändert – das von Francesco Stellacci in zweifacher Hinsicht. Zum einen als Privatperson, die wie wir alle mit der Pandemie leben muss. Und zum anderen als Professor für Materialwissenschaften an der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL). Vor der Pandemie wurde Stellacci oft ungläubig angeschaut, wenn er erzählte, woran er seit zehn Jahren forscht: an einem breit wirksamen Medikament gegen Viren. Ist das überhaupt möglich, wurde er gefragt. Sind Impfstoffe nicht wichtiger?
Seit Covid-19 hat die Idee von Francesco Stellacci deutlich an Zuspruch gewonnen. Zwar hat es die weltweite Forschungsgemeinschaft in Rekordzeit geschafft, Impfstoffe gegen das Sars-CoV-2-Virus zu entwickeln. Ob die Impfstoffe aber alle Mutationen in die Schranken weisen werden, ist nicht sicher.
Breitband-Antivirotikum
Unklar ist auch, ob es bei einer nächsten Pandemie ebenso schnell gelingen wird, Impfstoffe zu produzieren. «Deshalb ist es wichtig, neben Impfstoffen auch nach wirksamen Medikamenten gegen Viren zu forschen», sagt Stellacci. Ein Antivirotikum, das gegen ein breites Spektrum von Viren wirkt, würde nicht nur viele Menschenleben retten, sondern auch helfen, die Welt bei einer weiteren Pandemie vor erneutem Chaos zu bewahren.
Unterstützt von der Werner Siemens-Stiftung, hat sich sein Team des «Supramolecular Nano-Materials and Interfaces Laboratory» an der EPFL intensiv der Entwicklung eines solchen Breitband-Antivirotikums widmen können. Die Forschenden arbeiten dabei unter anderem mit Spezialistinnen und Spezialisten aus Virologie und Infektiologie an der Universität Genf und an den Genfer Universitätsspitälern zusammen.
1:0 für Lausanne
Um ihr Ziel zu erreichen, verwenden die Forschenden bestimmte Zuckermoleküle und verändern sie so, dass sie Viren austricksen können: Die Moleküle täuschen vor, Teile menschlicher Zellen zu sein, worauf die Viren sich an die «Attrappen» binden – ein Fehler mit tödlichem Ausgang. Denn die Zuckermoleküle sind mit «Fangarmen» ausgestattet, die Druck auf die Viren ausüben und diese schliesslich sprengen. Anders als bei bereits existierenden antiviralen Medikamenten sind die Viren in der Folge nicht nur in ihrer Vermehrung blockiert, sondern unwiederbringlich zerstört. 1:0 für Lausanne.
Die Forschenden um Stellacci haben seit Frühling 2020 zwei Versionen solcher Breitband-Antivirotika entwickelt. Denn es werden als «Attrappen» zwei unterschiedliche Zuckermoleküle benötigt. Nur so können möglichst viele verschiedene Virenarten «angelockt» und gesprengt werden. Der erste Wirkstoff soll der Behandlung von Covid-19, Zika-Virus-Infektionen, Dengue-Fieber und anderen viralen Erkrankungen dienen. Der zweite Wirkstoff soll insbesondere das breite Spektrum der Grippeviren angreifen.
Vielversprechende erste Tests
Die beiden Wirkstoffe waren schon im Corona-Jahr 2020 für erste Studien mit Tierversuchen bereit. Doch es kam zu Verzögerungen, weil die externen Projektpartner mit Covid-19-Impfstofftests ausgelastet waren. Im Mai 2021 konnten die Versuche schliesslich starten und die neuartigen Wirkstoffe auf Sicherheit und Wirksamkeit getestet werden.
Die bisherigen Ergebnisse sind vielversprechend. So zeigt der Wirkstoff gegen Grippeviren einen deutlichen Vorteil gegenüber dem bisher wirksamsten Grippemedikament Tamiflu. Dieses wirkt nur, wenn es innerhalb von 36 Stunden nach einer Ansteckung eingenommen wird. Die Symptome einer Grippe zeigen sich aber meist erst nach etwa 24 Stunden. «Bis jemand dann noch medizinische Hilfe aufsucht und Tamiflu einnimmt, ist das Zeitfenster der Wirksamkeit oft schon vorbei», so Stellacci. Der Wirkstoff seines Teams wirkt auch später im Krankheitsverlauf und ist deshalb deutlich praxistauglicher.
Getestet wurde auch der Wirkstoff gegen Sars-CoV-2 und verwandte Viren. Er erwies sich in ersten Tierversuchen als toxikologisch unbedenklich und seine Wirksamkeit war vielversprechend. Bis 2023 sollen beide Breitband-Wirkstoffe umfassend im Tiermodell getestet sein, sodass anschliessend klinische Studien beginnen können.
Spezifische antivirale Medikamente
Die Werner Siemens-Stiftung, die seit letztem Jahr Stellaccis innovatives Forschungsvorhaben unterstützt, will ihn nun langfristig fördern. Diese finanzielle Zusage ermöglichte es dem Forscher, sich 2021 einem weiteren «Traum»-Projekt zuzuwenden. Um Menschen – und auch Tiere und Pflanzen – vor Viruskrankheiten zu schützen, werden Breitband-Antivirotika nämlich nicht in jedem Fall genügen. Die Situation ist vergleichbar mit Krankheiten, die durch Bakterien verursacht werden: «Auch das beste Breitband-Antibiotikum wirkt nicht gegen jedes Bakterium», erklärt Stellacci. Bei einem gravierenden bakteriellen Infekt wird als Erstes ein breit wirksames Antibiotikum verabreicht – meist Penicillin. Oft genügt dies, um wieder gesund zu werden. Falls nicht, wird der Erreger im Labor genau bestimmt und mit Antibiotika bekämpft, die spezifisch gegen diese Bakterienart wirken.
Analog dazu schwebt Stellacci die zukünftige Standardbehandlung bei Viruserkrankungen vor: Zuerst soll eine erkrankte Person das passende Breitband-Antivirotikum erhalten. Reicht dieses nicht aus, wird die Virenart im Labor bestimmt, und der Patient oder die Patientin erhält dann ein spezifisches Antivirotikum.
Um solche spezifischen Antivirotika zu entwickeln, wollen die Forschenden ein standardisiertes Verfahren schaffen. Das soll ihnen ermöglichen, in kürzester Zeit Wirkstoffe gegen bereits bekannte sowie neu auftretende Viren herzustellen. Wie nötig dies ist, zeigt die Erfahrung aus der Covid-19-Pandemie. Es konnten zwar sehr rasch Impfstoffe entwickelt werden, die Suche nach Medikamenten jedoch, die gezielt gegen das Coronavirus wirken, gestaltet sich deutlich schwieriger.
Körpereigene Abwehr als Vorbild
Um seinen Traum von spezifischen Antivirotika wahr werden zu lassen, will Francesco Stellacci zwei Ansätze kombinieren: zum einen den Ansatz seiner Breitband-Antivirotika, welche Viren durch mechanischen Druck zerstören sollen. Zum anderen setzt er für die spezifischen Antivirotika auf die wirksamste Form der Virenabwehr, welche die Evolution hervorgebracht hat: Antikörper. Die grosse Stärke von Antikörpern liegt nämlich darin, dass sie zu ganz bestimmten Teilen von Viren passen wie ein Schlüssel ins Schloss. Docken Antikörper an Viren an, sind deren Bindungsstellen besetzt, und die Viren können die menschlichen Zellen nicht befallen.
Passende Antikörper zu jedem Virus lassen sich aus dem Blut von Menschen gewinnen, die eine Viruskrankheit überlebt haben. Solche Überlebenden gibt es zum Glück bei allen Viruskrankheiten. Mithilfe des Blutplasmas von Genesenen wurden unter anderem die Impfstoffe gegen Sars-CoV-2 entwickelt. Nach demselben Prinzip lassen sich auch antivirale Medikamente bauen, ist Francesco Stellacci überzeugt: «Diese Chance wird zu wenig genutzt. Es gibt bisher kaum antikörperbasierte Medikamente gegen virale Krankheiten.»
Fangarme und Antikörper
Stellaccis spezifische Antivirotika werden wie die Breitband-Antivirotika aus modifizierten Zuckermolekülen und Fangarmen bestehen. Sie werden aber um einen Teil des Antikörpers ergänzt, der an das spezifische Virus bindet (siehe Grafik S. 50). Auf diese Art nutzen die Forschenden die Stärke von Antikörpern und umgehen gleichzeitig deren Nachteil: Antikörper blockieren Viren zwar, zerstören sie aber nicht. Diese Aufgabe wird von den Zuckermolekülen und ihren Fangarmen übernommen. Das Resultat wird ein Wirkstoff sein, der die passgenaue Bindung an Viren mit dem Zerstören der Krankheitserreger kombiniert. Es wäre das 2:0 für Lausanne.
Doch gilt es, wie bei den Antibiotika zu verhindern, dass die Viren gegen die Wirkstoffe resistent werden. Deshalb zielen die spezifischen Antivirotika auf sogenannte konservierte Teile von Viren. Damit sind Virenteile gemeint, die kaum mutieren, weil sie zu wichtig für das Überleben des Virus sind. Bindet ein Wirkstoff an einer solchen existenziellen Stelle des Virus, ist die Chance gross, dass er lange wirksam bleibt, weil sich das Virus nicht durch Mutationen davon «befreien» kann.
Gründung eines Forschungszentrums
Die langfristige Unterstützung der Forschung von Francesco Stellacci durch die Werner Siemens-Stiftung soll es ihm ermöglichen, an der EPFL ein Virenkompetenzzentrum aufzubauen, das «Werner Siemens Foundation Center for Antivirals Research». Dessen Ziel ist ambitioniert: Sechs Monate nachdem die Gensequenz eines Virus bestimmt worden ist, soll ein Wirkstoff dagegen bereit sein für klinische Tests. Ein standardisiertes Verfahren, das die verschiedenen spezifischen Wirkstoffe nach identischem Muster aufbaut, soll es möglich machen. So könnte eine effiziente Versorgung mit antiviralen Wirkstoffen für die Schweiz und Europa aufgebaut werden.
Das Team um Francesco Stellacci hat nun bis 2023 Zeit, zu zeigen, dass das Konzept funktioniert. Bis dann sollen neben den Breitband-Wirkstoffen auch erste spezifische antivirale Wirkstoffe im Tiermodell getestet sein. Zudem soll bis dann ein detaillierter Plan zum Aufbau des «Werner Siemens Foundation Center for Antivirals Research» vorliegen.
Text: Adrian Ritter
Fotos: Kellenberger Kaminski Photographie/ETH Vorstand
Illustration: bigfish AG