Wirkstoffe gegen Viren
Francesco Stellaccis Idee der Breitband-Antivirotika nimmt Fahrt auf. Er und sein Team an der ETH Lausanne (EPFL) haben ihr Rezept zur Herstellung solcher Wirkstoffe erweitert – und gleich mehrere neue, aussichtsreiche Präparate gegen verschiedene Viruserkrankungen entwickelt.
Obwohl Viren seit über 100 Jahren bekannt sind, stellen sie die Medizin noch immer vor grösste Herausforderungen. Zwar gibt es gegen einige Viruserkrankungen äusserst wirksame Impfungen. Doch Medikamente, mit denen sich laufende Virus-Infektionen bekämpfen lassen, sind rar. Insbesondere gibt es bislang keine Wirkstoffe, die – analog zu den Breitband-Antibiotika gegen bakterielle Infektionen – gegen ein breites Spektrum von viralen Infekten wirken.
Die Forschungsgruppe von Francesco Stellacci vom «Supramolecular Nano-Materials and Interfaces Laboratory» an der EPFL will das ändern. Sie entwickelt Breitband-Antivirotika, deren Wirkstoffe die Viren bereits angreifen, bevor diese zur Vermehrung in eine Zelle eindringen. Um ihr Ziel zu erreichen, ergänzen die Forschenden ganz bestimmte Zuckermoleküle, sogenannte Cyclodextrine, mit mehreren wasserabweisenden Ketten aus Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen.
Druck zerstört Virenhülle
Diese fingerartigen Kohlenwasserstoff-Fortsätze ziehen dank ihren chemischen Endgruppen Viren an, binden sich an sie – und üben einen derart starken mechanischen Druck auf sie aus, dass die Virenhülle zerstört wird. Die Viren sind damit im Gegensatz zu bisher entwickelten antiviralen Medikamenten nicht nur in ihrer Vermehrung blockiert, sondern effektiv und irreversibel zerstört. Ihre Überreste werden vom Immunsystem entsorgt. Weil der Vorgang ausserhalb der Zelle stattfindet, bleiben die menschlichen Zellen unversehrt.
Auf der Basis solcher Cyclodextrin-Kerne haben Stellacci und sein Team bereits ein sehr vielversprechendes Medikament entwickelt. Es wirkt gegen Grippe- und andere Viren. «Wir konnten zeigen, dass es nicht nur in Zellkulturen, sondern auch im Tierversuch – bei Frettchen – wirkt», sagt Francesco Stellacci. «Und wir haben es so weiterentwickelt, dass es als inhalierbares Pulver einfach zu verabreichen ist.» Nun suche er Fördergelder, um die Substanz zu einem marktfähigen Medikament zu entwickeln. «Das ist ein gewaltiger und teurer Schritt», sagt Stellacci.
Neue Wirkstoff-Kerne
Gleichzeitig haben die Forschenden ihr Rezept zur Herstellung von antiviralen Wirkstoffen erweitert. Zum einen begannen sie, neue Verbindungen als Medikamenten-Kerne auszuprobieren. Denn es stellte sich heraus, dass die Antivirotika mit einem Cyclodextrin-Kern aus einem bisher unbekannten Grund wenig wirksam sind gegen das Coronavirus SARS-CoV-2. Als aussichtsreiche Alternativen, um die Viren-bindenden Kohlen-Wasserstoff-Ketten anzubringen, erwiesen sich sogenannte Benzole. Dabei handelt es sich um ringförmige Moleküle, die in ihrer Grundform aus sechs Kohlenstoff- und sechs Wasserstoffatomen bestehen.
Auf der Basis eines solchen Benzol-Kerns entwickelten die Forschenden ein Molekül, das sich im Tierversuch gegen SARS-CoV-2 als mindestens genauso wirksam erwies wie das heute empfohlene Präparat zur Frühbehandlung von Risikopatienten. Das Lausanner Medikament hat aber Vorteile bezüglich schwerer Lungenschäden – und es wirkt nicht nur gegen SARS-CoV-2, sondern auch gegen diverse andere Viren wie Influenza, RSV, Herpes, Hepatitis, HIV oder das Epstein-Barr-Virus.
Erweitert haben Stellacci und sein Team auch die Funktionen ihrer Wirkstoffe. So publizierten sie im abgelaufenen Jahr eine Studie mit einer Substanz, die eine Doppelfunktion gegen Grippeviren übernimmt: Einerseits wirkt sie als Medikament, indem sie die Viren am Eindringen in die Zelle hindert und zerstört. Andererseits stimuliert sie das Immunsystem, wirkt also wie eine Impfung.
Aktuell sucht Stellacci weitere, vielleicht noch wirksamere Substanzen auf der Basis von Benzol-Kernen. Auch bei den fingerartigen Fortsätzen seiner Moleküle, den Viren-bindenden Kohlen-Wasserstoff-Ketten, sieht er weiteres Potenzial. «Wir haben bereits gute Resultate bei Respiratorischen Synzytial-Viren (RSV) und Herpes-simplex-Viren (HSV)», erzählt er. Weitere, diese Prognose darf man wagen, werden folgen.