Professor Matthias Kleiner erarbeitete das Konzept für das Jahrhundertprojekt der Werner Siemens-Stiftung und fungierte als Projektmanager. Für ihn ist es ein einzigartiges Vorhaben, das in dieser Form nur von einer privaten Stiftung ausgeschrieben und vergeben werden konnte.

«Ich war begeistert»

Zum 100. Geburtstag eine mit 100 Millionen Schweizer Franken dotierte Ausschreibung: Projektmanager Matthias Kleiner erklärt, wie es zum «Jahrhundertprojekt» der Werner Siemens-Stiftung (WSS) kam, wie der Wettbewerb ablief – und weshalb er das Projekt für einzigartig hält.

Matthias Kleiner, wie entstand die Idee eines WSS-Jahrhundertprojekts?

Der hundertste Geburtstag einer Stiftung ist etwas Besonderes, gerade im Wissenschaftsbereich haben nur wenige Stiftungen ein solches Alter. Im Wissenschaftlichen Beirat diskutierten wir, wie die WSS ihr Jubiläum angemessen feiern könnte. Es entstand der Gedanke, dass es ein Jahrhundertprojekt geben müsste und dies eigentlich mit 100 Millionen Schweizer Franken auszustatten sei. Wir waren so mutig, weil die WSS ohnehin in jeder Hinsicht besondere und grossskalige Projekte fördert, typischerweise mit zehn Millionen Franken über zehn Jahre. Wir beschlossen also, dies dem Stiftungsrat vorzuschlagen.
 

Wie reagierte der Stiftungsrat?

Die Mitglieder des Stiftungsrates waren sofort begeistert. Das war im Frühjahr 2022. Da meine Amtszeit bei der Leibniz-Gemeinschaft im Sommer endete, bot ich an, mich um das Jahrhundertprojekt zu kümmern – und erarbeitete dann ein Konzept für das Jahrhundertprojekt.
 

Wie sah dies aus?

Ich schlug ein zweigeteiltes Vorgehen vor: zuerst einen Ideenwettbewerb, der abgeschlossen wird mit einer Vergabe von bis zu fünf WSS-Forschungspreisen – jeweils mit einer Million Franken dotiert; danach den Wettbewerb zwischen diesen Preisträgern um die Förderung eines WSS-Forschungszentrums mit 100 Millionen Franken. Ich regte auch den Themenbereich an: «Technologien für eine nachhaltige Ressourcennutzung». Wir haben nur diese eine Welt zur Verfügung – Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft müssen dem übermässigen Ressourcenverbrauch gemeinsam begegnen. Wir haben die Konzeptidee in den Stiftungsgremien besprochen und uns relativ schnell auf dieses Vorgehen geeinigt. An den  Nachfragen und Äusserungen merkte ich, wie sehr der Themenbereich inhaltlich getragen wurde – auch aus dem Familienbeirat.
 

Was war Ihnen bei der Ausschreibung des Ideenwettbewerbs wichtig?

Zu vermitteln, dass die Stiftung bereit ist, Risiken einzugehen – riskante, unkonventionelle Projekte zu fördern. Ideen, die man vielleicht woanders nicht vorzutragen wagt. Wir machten neben dem Themenbereich relativ wenige Vorgaben. Es brauchte eine Trägerinstitution, welche die grundlegende Infrastruktur und die räumliche Unterbringung garantiert. Denn die WSS will nicht in Beton und Wasserrohre investieren, möglichst viel soll in die wissenschaftliche Forschung fliessen. Auch gab es beispielsweise keine Bedingungen zur interdisziplinären Kooperation, wie das häufig vorgegeben wird. Alles sollte sich an den Notwendigkeiten der Forschung orientieren. Ich habe viele Resonanzen bekommen, die es als ganz besondere Ausschreibung bezeichneten – nicht nur aufgrund des Volumens, sondern auch aufgrund der Offenheit und der Risikobereitschaft.
 

Insgesamt wurden 123 Ideenskizzen eingereicht. Hätten Sie mehr erwartet?

Nein, ich war überwältigt von den 123 Einreichungen – von der Quantität und von der Qualität. Anfangs rechnete ich mit ungefähr 50 Vorschlägen. Und als die Ausschreibung einige Tage lief, dachte ich: Vielleicht werden es ja auch nur 30. Aber in den letzten zwei, drei Tagen vor dem Eingabetermin sass ich fast Tag und Nacht am Rechner, bestätigte den Eingang von Vorschlägen oder beantwortete letzte Fragen.
 

Was für Fragen?

Vielfach hinsichtlich formaler Dinge. Wir hatten den Umfang der Einreichungen auf zehn Seiten beschränkt – manche versuchten zu feilschen oder wollten wissen, welche Schriftgrösse sie noch benutzen dürften oder ob es wirklich beide Sprachversionen, Englisch und Deutsch, bräuchte. Aber letztlich war ich doch begeistert, dass so viele Einreichungen kamen und der Anteil derer, die von vornherein nicht in Frage kamen, relativ klein war. Ungefähr zwei Drittel kamen von wirklich herausragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Schweiz, aus Deutschland und Österreich.

Es ging immerhin um 100 Millionen Franken. Eine solche Summe könnte den einen oder die andere auch dazu verleiten, das Blaue vom Himmel zu versprechen. Gab es derartige Eingaben?

Klar. So etwas gibt es immer. Bis zu dem Punkt, dass jemand verspricht, er habe das Perpetuum mobile erfunden. Viele Ideen aber waren zwar kühn, hatten aber Hand und Fuss. Ein herausragender Wissenschaftler sagte mir, er trage eine Idee schon seit seiner Jugend mit sich herum – aber erst hier würde sich die Möglichkeit bieten, sie zu verfolgen. Genau das ist ja das Grundprinzip der WSS. Wir fragen: Wenn ihr die Gelegenheit hättet, ganz frei arbeiten zu können: Was wäre die Idee, die ihr verfolgen würdet?
 

Wie lief die Begutachtung ab?

Ich stellte ein kleines, externes Team zusammen aus Expertinnen und Experten für die Evaluierung von Wissenschaft und Forschung, das «Team Hannover». Es arbeitete alle 123 Skizzen durch und nahm eine Vorsortierung vor. Dank dieser grossen Vorarbeit konnte sich der Wissenschaftliche Beirat in seiner intensiven Diskussion auf die besten Skizzen konzentrieren. Trotzdem: Durchgesehen haben auch die Beiräte alle Skizzen.
 

Sechs Ideen erhielten in dieser ersten Ausschreibungsrunde einen WSS-Forschungspreis, der jeweils mit einer Million Schweizer Franken dotiert war. Was zeichnete diese Vorschläge aus?

Dass die Ideen weitreichend waren und auf hervorragender Wissenschaft basierten. Dass sie riskant waren, aber trotzdem den Eindruck vermittelten, sie seien langfristig realisierbar. Wenn eine solche Idee funktioniert, kann sie  ein wissenschaftliches, technisches oder wirtschaftliches Feld grundlegend verändern und einen wirklichen Durchbruch erzielen.
 

Die sechs Finalisten stammten aus der Chemie, der Solartechnologie und dem Agrarbereich. Sie bekamen noch einmal ein halbes Jahr Zeit, um ihre Ideen zu schärfen und ihre Vorschläge zu konkretisieren. Wo gab es die grössten Änderungen oder Verbesserungen?

Die Ideenskizzen waren zehn Seiten lang gewesen, die Konzepte für ein WSS-Forschungszentrum durften nun 50 Seiten umfassen. Die Teams konnten also detaillierter werden; sie verfeinerten, veränderten, spitzten zu. Einige befassten sich noch einmal sehr intensiv mit dem Kern ihres Konzeptes oder stiessen mit dem Forschungspreis sogar das eine oder andere Experiment an. Ich besuchte jedes Finalistenteam zwei Mal – zu einem frühen Zeitpunkt und kurz vor der Deadline. Wir wollten, dass es ein möglichst harter Wettbewerb wird. Darum habe ich wettbewerbsneutral durch Beratung und Feedback versucht zu helfen, die Konzepte bestmöglich zu machen.
 

Am Ende setzte sich das Projekt «catalaix» der RWTH Aachen durch. Was gab den Ausschlag?

Es bringt eine grosse Idee mit, die zu einem Gamechanger werden kann – insbesondere beim Recycling von Kunststoffgemischen, wie sie etwa in grosser Menge schwimmende Inseln in den Weltmeeren bilden. Das Projekt hat bereits reale Ansätze, birgt aber dennoch ein gehöriges Risiko. Es ist von höchster Relevanz, für Gesellschaft, Wissenschaft und vor allem auch für unsere Wirtschaft. Die Voraussetzungen vor Ort an der RWTH Aachen sind hervorragend. Und es ist ein Themenfeld, mit dem sich die Stiftung gut identifizieren kann. Das ist aus meiner Sicht auch sehr wichtig.
 

Was erwarten Sie für wissenschaftliche und gesellschaftliche Fortschritte vom WSS-Forschungszentrum?

Ich will das nicht detaillieren, das würde zu sehr ein Erwartungsraster über die Forschung legen. Aber meine Hoffnung ist, dass es dank diesen Arbeiten sinnvoll und wirtschaftlich wird, Kunststoffgemische auf einem hohen Produktionsniveau zu rezyklieren – und zwar unter Erhaltung eines grösstmöglichen Wertes für eine wirkliche Kreislaufwirtschaft in der Kunststoffchemie. Am Ende sollte es ein Geschäft werden, die Plastikabfälle aus Müllhalden an Land und Müllstrudeln in den Ozeanen einzusammeln und zurückzubringen in die Kunststoffproduktion.
 

Sie haben aus Ihrer Zeit als Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und als Präsident der Leibniz-Gemeinschaft grosse Erfahrung mit Förderverfahren für wissenschaftliche Forschung. Wie komplex oder wie aufwändig war der WSS-Wettbewerb verglichen mit anderen Ausschreibungen?

Gerade wegen dieser Erfahrungen haben wir vieles vereinfacht und auf den Punkt gebracht, um die Komplexität zu reduzieren, ohne die Entscheidungsqualität zu mindern. Ich glaube aber, ein solches Förderverfahren kann nur eine private Stiftung leisten, die nicht kleinteilige Haushaltsvorschriften beachten und sich nicht immer wieder vor Rechnungshöfen rechtfertigen muss. Es war ein aufwändiger, fairer und transparenter Prozess, aber bei weitem nicht so aufwändig wie andere bei gleichen oder geringeren Fördersummen.
 

Und wie steht das WSS-Jahrhundertprojekt in der Landschaft von wissenschaftlichen Grossprojekten?

Ich finde das WSS-Jahrhundertprojekt einzigartig – in der Freiheit, die damit verbunden ist, in der Risikobereitschaft, aber auch in der Reduzierung des Verwaltungsaufwandes. Denn es soll ja heissen: möglichst wenig Bürokratie und möglichst viel Wissenschaft.