Atlantik mit Lanzarote in Sicht

Bringt der Klimawandel die Meere zum Kippen?

Die Weltmeere nehmen gigantische Mengen an Wärme und CO2 auf und sind dadurch der wirkungsvollste Klimapuffer auf der Erde. Kann das endlos so weitergehen? Oder gibt es ein Limit, und wenn dieses überschritten ist, kippen die Meere? Antworten von zwei Experten, deren Projekte von der Werner Siemens-Stiftung unterstützt werden: vom Meeresgeologen und Klimamodellierer Michael Schulz und vom Paläoklimatologen Gerald Haug.

Letztes Jahr jagten sich die Hitzerekorde: Der 3. Juli 2023 war der heisseste Tag seit Messbeginn, der Juli der heisseste Monat. Auf welche marinen Ökosysteme wirken sich Temperaturrekorde am meisten aus?

Michael Schulz: Der Weltozean kann aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften und seines Volumens deutlich mehr Wärme speichern als die Atmosphäre. Das hat zur Folge, dass sich extreme Wetterereignisse global gesehen vorerst nur wenig auf die Ozeane auswirken. Doch so klein der globale Effekt derzeit noch ausfällt, man sollte ihn nicht unterschätzen. Schon ein kleiner Anstieg der Wassertemperatur von rund einem Grad kann spürbare Auswirkungen auf die hochkomplexen marinen Nahrungsnetze haben. Lokal gesehen ist zum Beispiel das Abwandern einer Fischart für die dortige Bevölkerung ein Drama.
 

2023 haben sich auch bisher kühle Regionen wie das Arktische Meer, die Antarktis und der Atlantik unerwartet rasch auf rekordhohe Temperaturen erwärmt.

Gerald Haug: Die Arktis ist stark betroffen von der Klimaerwärmung. Gemäss heutigen Berechnungen wird es in der Arktis um 2050 in den Sommermonaten gar kein Meereis mehr geben, sie wird nur noch im Winter vereist sein. Das Abschmelzen des Eises in den Polargebieten wird zu einem markanten Anstieg des Mee­resspiegels führen – und dieser Anstieg wird für uns Menschen zu einem langfristigen Problem. Denn selbst wenn wir morgen die CO2-Emissionen auf null brächten – wovon wir weit entfernt sind –, würde der Meeresspiegel weiter ansteigen, und zwar für einige hundert bis tausend Jahre. Was das für die kommenden Generationen bedeutet, können wir noch nicht ermessen. Ein Drittel der Menschen lebt in Küstennähe.
 

Auf das Leben in den Ozeanen wirkt sich die Klimaerwärmung aber derzeit noch gering aus?

Schulz: An den Küsten erleben wir bereits innerhalb von Dekaden so starke Stürme, wie sie früher einmal im Jahrhundert wüteten. Auch eine Veränderung der Jahreszeiten in den Meeren können wir beobachten. Und Sauerstoffarmut macht sich vermehrt auch in tieferen Wasserschichten bemerkbar.

Haug: Im Ozean erkennen wir zunehmend auch eine Tendenz zu Hitzewellen, sie werden seit ein paar Jahren intensiver und dauern länger an. Derzeit spielen sie sich vor allem an der Wasseroberfläche ab. Das beeinflusst wesentlich die Fischbestände. In grösserer Tiefe erwärmt sich der Ozean noch sehr schwach.
 

Wenigstens für die Tiefsee eine gute Nachricht …

Schulz: Leider nein. Eine wärmere Oberflächenschicht der Meere wirkt sich indirekt auf zahlreiche Meeresorganismen aus. Man geht davon aus, dass das organische Material, die Nährstoffe, Mikroorganismen und das CO2, die von oben nach unten transportiert werden, abnehmen werden und dass der Austausch zwischen wärmeren und kälteren Wasserschichten geringer wird – und dieser Austausch ist wichtig für das Werden und Vergehen von Leben im Meer. Modellrechnungen für das Jahr 2100 prognostizieren, dass die von Natur aus geringe Biomasse in der Tiefsee prozentual gesehen am stärksten abnehmen wird.

Innovationszentrum für Tiefsee-Umweltüberwachung

Das Innovationszentrum am MARUM in Bremen entwickelt technische Lösungen zur Bestimmung und Überwachung schützenswerter Tiefseeregionen. Im letzten Jahr konnten Ralf Bachmayer und Software-Ingenieur Pablo Gutiérrez das ferngesteuerte Unterwasserfahrzeug MiniROV ein erstes Mal von der Forschungsjacht «Eugen Seibold» aus testen, und zwar im Atlantik bei Lanzarote. Der optische Sensor, dank dem das MiniROV Materie und Organismen in der Tiefsee identifizieren kann, übermittelte die Bilder aus dem Atlantik direkt an die «Seibold». Ralf Bachmayer ist zufrieden: «Der Einsatz des MiniROVs von der Eugen Seibold aus sowie die anschliessenden Diskussionen um den wissenschaftlichen Wert und das Potenzial solcher Entwicklungen und Einsätze hat uns gezeigt, dass unser eingeschlagener Weg, nachhaltige Beobachtungs- und Monitoring-Systeme zu entwickeln, richtig ist und an Relevanz noch zugenommen hat, zum Beispiel für die CO2 -Speicherung im Meeresboden.» Die Forschungsgruppen der beiden von der WSS unterstützten Meeresprojekte werden bei gemeinsamen Forschungsinteressen auch in Zukunft zusammenarbeiten.

Mittel der Werner Siemens-Stiftung

4,975 Mio. Euro

Projektdauer

2018–2028

Projektleitung

Prof. Dr. Michael Schulz,
Direktor MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen (D)

Prof. Dr. Ralf Bachmayer, MARUM –
Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen (D)

Gibt es andere Beispiele, wie sich die Klimaerwärmung in der Tiefsee auswirkt?

Schulz: Nehmen wir das Klimagas Methan. Es entsteht zum Beispiel aus Überresten von Plankton, das vor langer Zeit im Ozean gelebt hat und abgestorben auf den Meeresboden gesunken ist. Methan ist an den Kontinentalhängen der Meere in enormen Mengen auch in Form von Methanhydraten gelagert – das sind eisähnliche weissliche Festkörper aus Methan und Wasser. Wenn diese nun durch die Klimaerwärmung schmelzen und das Methan freisetzen, wird sich das auch auf die Tiefsee auswirken – wie, weiss man allerdings wie so vieles in der Tiefsee nicht genau.
 

Was wären mögliche Szenarien?

Schulz: Das Methan könnte in die Atmosphäre gelangen und die Klimaerwärmung antreiben. Das Methan könnte aber auch im Wasser verbleiben und mikrobielle Prozesse anfachen – denn es ist auch Nahrung für mikrobielle Organismen wie gewisse Bakterien und Methanabbauende Archaeen. Diese Tiefsee-Lebewesen schaffen es durch chemische Prozesse, Gase in organisches Material umzuwandeln und damit anderen Tiefsee-Lebewesen Nahrung zu bieten. Die Lebewesen in der Tiefsee funktionieren generell recht anders als jene an Land. Insbesondere sind sie teilweise von chemischen Prozessen abhängig und nicht von Sonnenlicht.
 

Welche Lebewesen im Ozean sind aktuell am stärksten von der Erwärmung betroffen?

Haug: Das sind vor allem Organismen, die nicht in kältere Gebiete wegschwimmen können – wie Korallenriffe und Mangrovenwälder. Und die Menschen, die nahe bei Küsten leben; für sie wird der Meeresspiegelanstieg dramatische Folgen haben.
 

Die Ozeane haben in den vergangenen 18 Jahren doppelt so viel Wärme aufgenommen wie zuvor, und sie nehmen weltweit auch am meisten CO2 auf. Durch diese gewaltigen Pufferkapazitäten haben die Ozeane die menschgemachte Klimaerwärmung ein wenig aufgefangen. Wo ist das Limit erreicht? Können die Meere die globale Erwärmung von mehr als plus 2 Grad, wie sie für das Jahr 2100 prognostiziert wird, noch puffern?

Haug: Mehr als 2 Grad Celsius Erwärmung können wir nur vermeiden, wenn wir das Pari­ser Klimaabkommen einhalten – was wir derzeit aber nicht tun. Im Moment sind wir auf einer noch steileren Ext­rapolation, bei global plus 2,7 Grad Celsius im Mittel bis 3,4 im schlechtesten Fall. Das wird die Auswirkungen massiv verstärken.
 

Werden die Meere irgendwann kippen?

Schulz: Nein, wir haben gegenwärtig keinen Grund anzunehmen, dass die Meere insgesamt kippen könnten. Sie werden sich massiv verändern, aber nicht im Sinn eines Umkippens, nach dem alles unumkehrbar anders sein wird.

Haug: Ich schliesse mich dem an. Die Ozeane verändern sich, das zeigt die Geschichte des Klimas klar. Der flache Ozean kann sich sehr schnell verändern durch die Zunahme der Energie, und das wird vermehrt Extremereignisse wie starken Regenfall und Tropenstürme auslösen. Das werden wir auch an Land spüren. Aber der grösste Teil des Ozeans befindet sich unterhalb der sogenannten Thermokline, also unterhalb der Wasserschicht, die verhindert, dass Kälte, CO2 und nährstoffreiches Tiefenwasser an die Oberfläche steigt. Dort unten ist der Einfluss der Klimaerwärmung noch gering.
 

Die Ozeane können nicht kippen? Man hört doch immer wieder von sogenannten Kipppunkten?

Schulz: Es gibt bei einem wichtigen Teilsystem des Ozeans einen Kipppunkt, nämlich bei der grossen Umwälzzirkulation im Atlantik. Wenn sich das Wasser im Nordatlantik nicht stark genug abkühlt und dadurch weniger dicht wird, dann kommt irgendwann ein Punkt, an dem die nötige Dichte für die Umwälzung nicht mehr erreicht wird und keine vertikale Zirkulation mehr entsteht. Es gibt einzelne Forschende, die behaupten, dass das in wenigen Jahren eintreten wird. Das widerspricht aber allen Langzeitmessungen und realitätsnahen Modellierungen.

Können Sie ausführen, was falsch ist an der Vorstellung des Kippens der Meere?

Schulz: Zum einen spielen sich Veränderungen im Ozean in Zeitskalen von Hunderttausenden von Jahren ab, das ist für unsere Gesellschaft völlig irrelevant. Zum anderen ist auch die Vorstellung des Unumkehrbaren falsch. Wenn man die Ozeane aus erdgeschichtlicher Perspektive ansieht, kann man für die ferne Zukunft sagen: Die Erde wird den Menschen überleben, und solange der blaue Planet besteht, wird es Formen von Leben darauf geben. Vor diesem Hintergrund lautet die richtige Frage: Finden die Veränderungen so schnell statt, dass wir Menschen uns nicht anpassen können?
 

Was müsste man Ihrer Ansicht nach nun dringend tun, damit der Mensch sich nicht selbst das Wasser abgräbt?

Haug: Es braucht schnellstmöglich einen Wechsel bei den Energiesystemen und eine drastische Reduktion der Verbrennung, vor allem von Kohle – doch das tun wir grad nicht.

Schulz: In den westlichen Ländern versuchen wir derzeit, unseren Energiebedarf durch erneuerbare Energien zu decken. Es ist aber ein Trugschluss, zu meinen, damit sei es getan. Ohne Reduktion von zwei Dritteln unseres derzeitigen Energiebedarfs geht es nicht. Wir müssen uns einen anderen Lebensstil zulegen.
 

Wie stehen Sie zu technischen Ansätzen, den Klimawandel zu bremsen?

Schulz: Ralf Bachmayer von unserem Innovationszentrum für Tiefsee-Umweltüberwachung untersucht derzeit, ob man CO2 in grösserem Umfang in basalthaltiges Gestein im Ozean einleiten könnte. Verflüssigtes CO2 reagiert relativ schnell mit den Basalten, daraus entsteht Carbonatgestein. Wenn Sie mich fragen, ob es das braucht, ist die Antwort klar: Es gibt kein Szenario, das ohne die Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre auskommt. Dabei werden die Ozeane ziemlich sicher eine grosse Rolle spielen, weil wir dort potenziell sehr viel CO2 speichern können.
 

Warum tut man es nicht bereits?

Schulz: Es kostet unglaublich viel Energie, das CO2 in die Ozeankruste zu bringen. Zwar erlauben die hohen Temperaturen von vulkanischem Gestein im Meer die Umsetzung von flüssigem CO2 in Carbonat in einer Zeitspanne von wenigen Jahren. Das grosse Aber: Das Ganze würde sich in der Mitte des Ozeans abspielen – dorthin mit riesengrossen Tankern zu fahren, zu bohren und CO2 zu verpressen, das ist keine leichte Aufgabe. Die CO2-Bilanz dieses Verfahrens wird derzeit von verschiedenen Stellen berechnet. Und man muss prüfen, ob man nicht besser die grossen natürlichen Basaltvorkommen nutzt, auf Island, in Afrika oder Indien beispielsweise.
 

Gibt es andere technische Möglichkeiten?

Haug: Worüber man nachdenken sollte, ist eine Kreislaufwirtschaft im Sinne von Carbon Capture and Utili­zation. Bei diesem Verfahren scheidet man CO2 am Emissionsort ab und produziert daraus mittels Katalyse-Reaktionen Energieträger wie Methanol. Ich denke, wenn wir in grösseren Energiekreisläufen denken, können wir so eine 5- bis 10-prozentige CO2-Reduktion in den nächsten dreissig Jahren erreichen. Aber auch da ist vieles im Labor zwar möglich, aber noch nicht auf genügend grosse Mengen skalierbar.

Schulz: Technologische Ansätze fressen einfach immer Energie, und wir können die Erneuerbaren nicht schnell genug ausbauen.

Haug: Deshalb muss die Politik rasch die Energiegewinnung diversifizieren und mit der Industrie in sonnen- und windreichen Regionen der Erde wie zum Beispiel Nordafrika, der arabischen Welt, Australien oder Patagonien ins Gespräch kommen. In den Tropen und Subtropen lässt sich genügend Sonnenenergie gewinnen. Klar ist: Europa wird auch in Zukunft 70 Prozent seiner Energie importieren müssen.
 

Wie hoffnungsvoll sind Sie?

Schulz: Was mich optimistisch stimmt, sind sehr ernstzunehmende Studien, die zeigen, dass ein CO2-reduzierter Lebensstil nicht bedeutet, dass man wie in der Steinzeit leben muss. Sondern dass man damit selbst eine wachsende Weltbevölkerung ernähren kann, dass deren Mobilität, Wohnraum und Energieverbrauch auf einem vernünftigen Niveau gewährleistet werden kann. Es gibt auf der Erde genügend Ressourcen, es ist eine Frage der Verteilung.

Haug: Und wir haben auch die Techniken in der Hand. Für mich sind wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer noch eine grosse Hoffnung. Denn eigentlich können wir es, eigentlich sind wir intrinsisch motiviert, dranzubleiben und multinational zusammenzuarbeiten. Woran es derzeit vor allem mangelt, ist der politische Wille zur verbindlichen internationalen Kooperation und die Einführung von Mechanismen mit Lenkungswirkung, basierend auf marktwirtschaftlichen Ansätzen wie einer Bepreisung von CO2.

Forschungsjacht «Eugen Seibold»

Die Crew der «Seibold» segelte nach zwei Jahren Beprobung des Atlantiks durch den Panama-Kanal in den Pazifik – «für ein Schiff mit so viel analytischer Hochtechnologie an Bord eine politische Herausforderung», erzählt Projektleiter Gerald Haug. «Es brauchte die Präsenz der deutschen Botschafterin an Bord, um den Verdacht auf Spionage zu entkräften.» In der Folge besuchte auch die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock die «Seibold» im Hafen von Panama City. Von der neuen Basis aus erforscht die Crew derzeit das sich anbahnende Wetterphänomen El Niño in Transekten zwischen Panama und Galapagos. «El Niño ist ein Ozean-Atmosphären-Grossereignis, das wir biologisch, physikalisch und chemisch quantifizieren möchten», sagt Haug. Als weiteres Highlight des vergangenen Jahres nennt er die biochemische Beprobung der grossen Korallen-Archipele im Zentralpazifik, welche durch die Grosszügigkeit einer Ozean-affinen Privatperson ermöglicht wurde. Die Forschenden konnten an den Korallen erstmals die Stickstoff-Isotope sowie organisches Material, Nährstoffe und Biomarker messen und den Bestand eines wichtigen Korallenarchivs verdreifachen. Die «Seibold» wird auch noch komplementäre Messungen beisteuern, um heutige und kommende ozeanische und atmosphärische Veränderungen quantitativ mit jenen der letzten Dekaden und Jahrhunderte vergleichen zu können.

Mittel der Werner Siemens-Stiftung

3,5 Mio. Euro (2015–2019 Bau, Infrastruktur)

3 Mio. Euro (2020–2030 Betrieb)

Projektdauer

2015–2030

Projektleitung

Prof. Dr. Gerald Haug,
Direktor der Abteilung Klimageochemie,
Max-Planck-Institut für Chemie, Mainz,
und Professor an der ETH Zürich

Dr. Ralf Schiebel,
Gruppenleiter Mikropaläontologie am Max-Planck-Institut für Chemie, Mainz