Leben der besonderen Art
In der Tiefsee findet man Lebensformen, die man nicht für möglich halten würde. Ihre Rolle im Gesamtsystem Erde ist noch weitgehend unerforscht. Ihre grosse Bedeutung hingegen ist klar.
In der Mitte des Atlantiks tritt reiner Wasserstoff aus. Ein internationales Team von Meeresforschenden überlegte, ob Leben dort grundsätzlich möglich wäre. Sie machten sich mit «Wasserstoff-Schnüfflern» auf den Weg, um die Frage zu klären, und stiessen auf Muscheln, in deren Darm Bakterien lebten, die den Wasserstoff oxidierten. Die Bakterien veratmeten Wasserstoff statt Sauerstoff! Für MARUM-Direktor Michael Schulz der Universität Bremen ist das ein Paradebeispiel, wie man eine theoretische Aussage mit einem Tauchfahrzeug in der Praxis prüfen und so völlig neue Erkenntnisse und Organismen finden kann. «Das lernt man in der Tiefsee: Es gibt viele mögliche Lebensgemeinschaften; zum Teil funktionieren sie grundsätzlich anders, zum Beispiel chemosynthetisch.» Diese Organismen oxidieren anorganische Stoffe aus dem Erdinnern wie Methan, Schwefelwasserstoff oder Wasserstoff, um zu leben.
Leben unter Hochdruck
Die Tiefsee wirft die Frage nach den Grenzen des Lebens auf. Der Wasserdruck steigt alle zehn Meter Wassertiefe um ein Bar. In 1000 Metern Tiefe drückt auf jeden Quadratzentimeter ein Gewicht von 100 Kilogramm. Etwa ein Viertel des Meeresbodens liegt sogar tiefer als 5000 Meter. In die Tiefsee dringt auch kein Sonnenlicht, es ist stockdunkel. Und es ist kalt. Trotz enormem Wasserdruck, Dunkelheit und Kälte existiert in der Tiefsee Leben bis in die grössten Tiefen. Wale tauchen bis 3000 Meter tief, Fische sogar bis 8000 Meter – weil es auch dort unten zu futtern gibt.
Hitzeliebende Organismen
Die meisten ständigen Tiefseebewohner sind Weichtiere und Mikroorganismen. Reich besiedelt mit diesen Lebewesen sind die sogenannten Schwarzen und Weissen Raucher, das sind rauchende und heisses Wasser speiende Schlote auf vulkanisch aktivem Meeresboden. In diesem extremen Umfeld leben Garnelen, Schnecken und Krebse in ausgeklügelten Symbiosen mit Bakterien. Die Bakterien wandeln die im Wasser gelösten Schwefelwasserstoffe in Energie um. Auch dienen die Bakterien anderen Lebewesen als Nahrung. Gut 500 Arten von Lebenwesen kommen ausschliesslich bei Schwarzen Rauchern vor, sie gelten als besonders schutzbedürftig. Noch extremer sind die Lebensformen im Innern des Meeresbodens. Dort steigt die Temperatur pro Kilometer Tiefe um 25 bis 30 Grad Celsius an. Trotz dieser scheinbar lebensfeindlichen Umstände fand man vor Japan zweieinhalb Kilometer tief im Meeresboden Mikroorganismen. Sie wurden vor 20 Millionen Jahren zusammen mit terrestrischen Pflanzenresten abgelagert und leben heute in bis zu 60 Grad Celsius warmen, kohlehaltigen Sedimenten. Wovon leben diese Organismen, und welche Umweltbedingungen können sie nicht mehr überleben? Man weiss es nicht.
Wichtige Bakterien und Archaeen
Was man aber weiss: Zwischen dem mikrobiellen Leben (Bakterien, Archaeen) in dieser sogenannten tiefen Biosphäre und der festen Erde (Geosphäre) bestehen enge Wechselwirkungen. Sie beeinflussen den Stoffhaushalt des Meeresbodens und der Tiefsee, und damit möglicherweise nicht nur die dort beheimateten vielfältigen Ökosysteme, sondern auch ganze Nahrungsnetze vom Plankton bis zum Fisch. Auch am globalen Kohlenstoffkreislauf sind die Bakterien und Archaeen in der Tiefsee massgeblich beteiligt. Denn die in den Sedimenten der Ozeane lebenden Mikroorganismen ernähren sich vom Abbau organischer Substanzen – und davon hat es in der Tiefsee genug. Die Meeressedimente sind die grössten Kohlenstoffspeicher der Erde.
Bleibende Schäden
Die Ökosysteme der Tiefsee sind wichtig – und sehr verwundbar. MARUM-Direktor Michael Schulz erklärt das am Beispiel eines Experiments, das deutsche Tiefseeforscher 1989 im Pazifik vor Peru durchführten: Sie pflügten den Meeresboden um, weil sie herausfinden wollten, wie sich das Graben auf die Umgebung auswirkt. Es stellte sich heraus, dass sich das mikrobielle Leben selbst 26 Jahre danach nicht vollständig erholt hatte und die Furchen im Meeresboden immer noch zu sehen waren. «In der Tiefe geht alles sehr, sehr langsam vor sich», erklärt Michael Schulz, «die Organismen haben viel weniger Nachkommen, das Leben funktioniert gleichsam in Slow Motion – angepasst an die Kälte, die Dunkelheit und den immensen Druck.» Deshalb regeneriert sich das Ökosystem Tiefsee nicht so einfach und schnell. «Es ist enorm wichtig, dass im Meer nicht der gleiche massive Eingriff erfolgt wie beim Bergbau an Land», betont Schulz.
Hotspots für Lebewesen
Ein paar Stellen in der Tiefsee sind bereits bekannt als besonders beliebt bei Lebewesen: die Hänge der Unterwasserberge, die Schwarzen und Weissen Raucher sowie die Manganknollen. Eine «Volkszählung» in den Meeren (Census of Marine Life), die eine internationale Forschergemeinschaft durchgeführt hat, erfasste in der 7000 Kilometer langen Clarion-Clipperton-Bruchzone im Pazifik 240 000 Arten. Die Forschenden gehen aber von insgesamt mindestens einer Million Arten aus. Anemonen, Krebse, Muscheln, Krabben, Aale, Blobfische, Tiefseeflöhe, Kalmare, Kraken, Gorgonien, Schlangensterne, Seelilien, Seegurken, Tiefseegarnelen, Blaumäulchen, Bartwürmer, Schwämme, Kaltwasserkorallen und Schnecken bevölkern die Tiefsee … und vermutlich hunderttausende weitere Arten, die man noch nicht entdeckt hat. Das reichhaltige Nahrungsangebot zieht auch grössere Fische wie Haie und Thunfische sowie Wale in die tieferen Meeresregionen.
Tiefseebergbau schädigt
Der Tiefseebergbau wird die Biodiversität der Tiefsee direkt und indirekt schädigen. Direkt, weil er in kurzer Zeit Artengemeinschaften auslöscht, die sich über Jahrmillionen aufeinander eingestellt haben. Oft leben in der Tiefsee sehr viele verschiedene, seltene und zum Teil einzigartige Arten zusammen – von jeder Art gibt es häufig nur wenige Individuen, die ausserdem kaum mobil sind und sich nur sehr langsam fortpflanzen. Wird ihr Habitat zerstört, können sie nicht einfach «auswandern», weil sie für ihre Verbreitung ein ganz bestimmtes Netz von Lebensbedingungen brauchen. Solch vielfältige, aufeinander eingespielte Arten sind nicht einfach nice to have, sondern für das Gesamtsystem Erde wichtig. Funktionierende Ökosysteme liefern den Menschen sauberes Wasser, Nahrungsmittel, Rohstoffe, und sie stabilisieren das Klima. Der Tiefseebergbau wird auch indirekten Schaden anrichten. Denn das Graben oder Saugen wirbelt Staubwolken auf. Die Staubwolken trüben das Wasser und breiten sich weit im Ozean aus. Sie gefährden die Schwämme, Korallen und Weichtiere, die auf klares Wasser und wenige organische Partikel eingestellt sind; im schlimmsten Fall ersticken die Wasser filtrierenden Tiefseelebewesen an den aufgewirbelten Partikeln. Ausserdem setzt der Metallabbau im Meer Schwermetalle frei. Die abgebauten Metalle Kupfer, Zink, Mangan, Kobalt und Nickel sind in Wasser gelöst in hohen Konzentrationen toxisch. Die Verseuchung mit Schwermetallen ist eines der grössten Umweltrisiken des Metallbergbaus. Das verseuchte Wasser vergiftet als erstes die Fische, dann reichern sich die Schwermetalle entlang der Nahrungskette an und werden schlussendlich auch von den Menschen konsumiert.
Umweltschutz in der Tiefsee
Welche Ökosysteme sind essenziell in der Tiefsee? Was darf der Tiefseebergbau unter keinen Umständen zerstören? Diese wichtigen Fragen will das Innovationszentrum für Tiefsee-Umweltüberwachung, das 2018 dank der Finanzierung der Werner Siemens-Stiftung am MARUM an der Universität Bremen eingerichtet werden konnte, klären. Es will dazu beitragen, die wichtigsten Parameter der Tiefsee besser zu erkennen, zu erforschen und die relevanten Ökosysteme zu identifizieren – um dann festlegen zu können, wie Umweltschutz im Tiefseebergbau aussehen muss. «Wir wollen herausfinden, was man tun muss, damit der Schaden, den der Tiefseebergbau verursacht, zumindest minimiert wird», umschreibt MARUM-Direktor Michael Schulz das Ziel. Denn Schaden wird es auf jeden Fall geben, ist der Meeresforscher überzeugt. «Manchmal hört man den Begriff ‹grüner Tiefseebergbau› – doch das ist völliger Quatsch, das gibt es nicht», sagt Schulz. «Es wird Schäden geben in einem Ökosystem, von dem wir noch nicht einmal ansatzweise verstanden haben, wie es eigentlich funktioniert.»
Text: Brigitt Blöchlinger
Fotos: MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften, Universität Bremen